Marburg (epd). Die Situation der Flüchtlinge in Europa muss nach Ansicht des Psychologen Ulrich Wagner stärker in die öffentliche Wahrnehmung gerückt werden. "Es ist ein unangenehmes Thema, das man totzuschweigen versucht", sagte der Marburger Sozialpsychologe dem Evangelischen Pressedienst (epd). Mit einem offenen Brief an europäische Entscheidungsträgerinnen und -träger hätten er und mehr als 400 Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa daran erinnern wollen, dass es neben der Corona-Pandemie noch weitere ungelöste Probleme gebe. Außer einer Eingangsbestätigung durch den britischen Premierminister Boris Johnson hätten sie jedoch keine Reaktionen erhalten, weder von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) noch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen oder den Bundestagsfraktionen verschiedener Parteien.
In dem Schreiben hätten die Psychologinnen und Psychologen vor etwa drei Wochen einen humanen Umgang mit den geflüchteten Menschen in den Lagern an den EU-Außengrenzen gefordert. "Es macht den Eindruck, als wenn wir es als Gesellschaft nicht ertragen könnten, mit zu vielen Problemen umzugehen." Dabei sei das Problem der Flüchtlingslager leichter lösbar als die Corona-Pandemie. Der Wissenschaftler schlug daher vor, das Problem der Lager zuerst zu lösen und auf diese Weise ein positives Signal an die Bevölkerungen zu senden: "Wir kriegen das hin." Wagner sagte: "Es wäre eine Möglichkeit, in der Corona-Depression ein positives Zeichen zu setzen."
Europa fehle in der Flüchtlingsfrage eine Strategie, kritisierte der Psychologieprofessor. Er habe Kontakt zu Menschen, die in den Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen in Griechenland oder Bosnien gelebt haben. Deren Berichte seien noch bedrückender als die Berichterstattung in den Medien. Ohnehin berichteten die Medien "nicht so prominent" über die katastrophalen Zustände in den Lagern. Das Flüchtlingsproblem werde in weiten Teilen der Gesellschaft kollektiv verdrängt.
"Aus psychologischer Perspektive hat der gegenwärtige Umgang mit Geflüchteten an den europäischen Grenzen negative Auswirkungen auf alle: Auf Geflüchtete, die europäische Sicherheit und das europäische demokratische System", heißt es in dem Brief vom 7. Januar. Die Flüchtlinge und deren Kinder würden durch die Erlebnisse in den Lagern zusätzlich traumatisiert. Ihre Bereitschaft, sich mit der Kultur zu identifizieren, deren Mitglieder sie eigentlich werden wollten, gehe durch das erlittene Unrecht zurück. Die "andauernde Misshandlung" von Flüchtlingen könne außerdem in den europäischen Bevölkerungen "das Vertrauen und die Überzeugungen in die Werte und die Funktionsfähigkeit der europäischen Demokratien" unterminieren.