Hannover, Erfurt (epd). Nach dem Eklat um eine junge Rednerin der "Querdenken"-Demo am Wochenende in Hannover wirbt der Historiker Jens-Christian Wagner dafür, geschichtsrevisionistischen Äußerungen immer und überall deutlich zu widersprechen. Die 22-Jährige hatte sich mit der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl verglichen und damit Kritik und Häme auf sich gezogen. "Es wäre grundlegend falsch, solche Gleichsetzungen einfach unwidersprochen hinzunehmen", betonte Wagner am Montag im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
"Entscheidend ist, das nicht einfach polemisiert wird, sondern der Relativierung und Fake History eine wissenschaftlich und ethisch fundierte Einordnung entgegengesetzt wird", sagte der Stiftungsdirektor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Thüringen. "Wir sollten nicht überreden oder überwältigen, sondern überzeugen." Der Historiker forderte, nicht nur Schulen, Universitäten, Politik oder Medien, sondern die ganze Gesellschaft müsse dazu beitragen, ein Geschichtsbewusstsein zu vermitteln, das mehr als die reinen historischen Daten beinhalte. "Es bedeutet, historische Prozesse einschließlich ihrer Ursachen und Folgen und die historische Bedingtheit des eigenen Lebens zu verstehen."
Die deutsche Erinnerungskultur beschränke sich noch zu sehr auf die Empathie und die Identifikation mit den NS-Opfern, sagte er. "Auch das trägt mit dazu bei, dass sich jemand wie die junge Jana aus Kassel derartig mit den Opfern identifiziert, dass er oder sie sich selbst als Verfolgte sieht." Wichtig sei es deshalb, danach zu fragen, warum Menschen zu Opfern wurden, was die Täter und Profiteure der NS-Verbrechen antrieb und warum die meisten Deutschen im Nationalsozialismus bereitwillig mitmachten. "Und wir müssen Geschichtsbewusstsein mit einer klaren politischen Haltung gegen alle Formen des Geschichtsrevisionismus, des Rassismus, des Antisemitismus und der Demokratiefeindlichkeit verbinden."
Dass eine 22-Jährige sich in die Rolle einer Widerstandskämpferin hineinfantasiere und mit Sophie Scholl gleichsetze, sei "eine Anmaßung sowie irritierend und erschütternd zugleich", sagte der frühere Leiter der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. "Die junge Frau instrumentalisiert und verhöhnt damit die NS-Opfer und setzt die rechtsstaatlichen coronabedingten Einschränkungen der Grundrechte mit einer brutalen Diktatur wie dem Nationalsozialismus gleich." Damit sei sie bedauerlicherweise kein Einzelfall. Insbesondere die AfD betreibe eine derartige Gleichsetzung mittlerweile "notorisch".