Bochum (epd). Die Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Sigrid Graumann, vermisst eine konsequente politische Initiative für den Schutz der Pflegeheime in der Corona-Pandemie. Aus dem ersten "Lockdown" sei zu wenig gelernt worden, kritisierte Graumann am Montagabend bei einer Online-Veranstaltung der Evangelischen Stadtakademie Bochum. "Mir fehlt in der politischen Debatte, dass wir grundsätzlich überlegen, was wir tun können, um Gesundheitsschutz mit möglichst viel Freiheit zu vereinbaren", sagte Graumann. Es gebe Mittel und Wege, die die einzelnen Heime aber nur mit politischer Unterstützung umsetzen könnten.
So gebe es Maßnahmen, die eine erhebliche Schutzwirkung hätten, ohne die Heimbewohner zu isolieren, sagte Graumann, die Mitglied im Deutschen Ethikrat ist. Durch die Schaffung kleiner Wohngruppen, die von einem festen, eng begrenzten Mitarbeiter-Stab versorgt würden, könne das Ansteckungsrisiko erheblich minimiert werden. "Wenn es politisch gewollt wäre und wenn es finanziert würde, wäre eine solche Umstrukturierung auch kurzfristig denkbar."
Wenn ein Bruchteil des Geldes, das für die Schaffung von Krankenhaus-Betten aufgebracht worden sei, in die Pflege flösse, könne schon sehr viel erreicht werden. Längerfristig seien diese Investitionen ohnehin notwendig, um eine krisenfeste Pflege zu sichern. "Angesichts der hohen Infektions- und Sterberaten in Pflegeheimen können wir uns sicher sein, dass die geforderte Umstrukturierung eine erhebliche Wirkung hinsichtlich der Eindämmung der Pandemie hätte."
Graumann warnte vor erneut laut gewordenen Forderungen nach besonderen Schutzmaßnahmen für Risikogruppen. Faktisch hieße das, Menschen mit einem erhöhten Infektionsrisiko zu isolieren, um die Schutzmaßnahmen für andere Teile der Gesellschaft lockern zu können. Rechte von Selbstbestimmung und Teilhabe von Heimbewohnern dürften aber nicht dauerhaft ausgesetzt werden.
Der erste Lockdown in Heimen im Frühjahr sei vor dem Hintergrund eines begrenzten Wissens und fehlender Schutzmittel zwar gerechtfertigt gewesen, sagte Graumann. Denn sonst hätte es wahrscheinlich noch viel mehr Tote gegeben. Experten und Interessensvertreter seien sich aber einig, dass sich das nicht wiederholen dürfe. Mittlerweile seien die Schädigungen sichtbar, die durch die monatelange Isolation im Frühjahr bei Heimbewohnern entstanden seien. Weil Therapien und Besuche fehlten, hätten viele Pflegeheim-Bewohner kognitive und körperliche Fähigkeiten eingebüßt. Das sei oftmals nicht wieder aufzuholen.