Wilmer: "Kaschierte Angst" treibt Proteste gegen Corona-Maßnahmen an

Wilmer: "Kaschierte Angst" treibt Proteste gegen Corona-Maßnahmen an
16.09.2020
epd
epd-Gespräch: Charlotte Morgenthal und Daniel Behrendt

Hildesheim (epd). Der zunehmende Protest gegen Corona-Verordnungen ist nach Ansicht des katholischen Hildesheimer Bischofs Heiner Wilmer ein Ausdruck von Furcht. "Was diese Menschen zutiefst verbindet, ist kaschierte Angst, die sie nicht wahrhaben wollen", sagte der Theologe dem Evangelischen Pressedienst (epd). Diese Angst verbarrikadiere sich hinter Wutanfällen, während die Protestierenden sich entschlossen und kämpferisch gäben. "Aber ich bin mir sicher: Wenn sie sich ihren innersten Ängsten öffneten, würden sie zerbrechen", sagte Wilmer.

Dennoch müsse mit diesen Menschen der Dialog gesucht werden. Das könne allerdings nicht mit der Masse und nicht nur auf der Ebene sachlicher Argumente geschehen. "Die Demonstrationen werden ja vor allem von aufgeheizten Emotionen und Verschwörungstheorien getrieben. Unter solchen Umständen kann Vernunft nicht viel bewirken. Wir brauchen das Gespräch, aber in viel kleinerem Rahmen", sagte der Bischof.

Zwingend dafür notwendig sei eine neue, echte Streitkultur. Statt in der Sache zu streiten und durchaus auch mal leidenschaftlich Argumente auszutauschen, würden Gesprächspartner heutzutage schnell diffamiert und verachtet. "Gute Streitkultur besteht darin, dass wir nicht immer einer Meinung sein müssen, aber als Menschen dennoch zusammenstehen", sagte Wilmer. Nur so sei sozialer Frieden möglich. "Dieser Frieden ist nicht einfach so gegeben, sondern muss buchstäblich erstritten werden - aber eben in einer Kultur der Achtung und des Respekts."

In den vergangenen Jahrzehnten hätten die Menschen den Fehler begangen, kapitalistischen Strukturen zu sehr das Wort zu reden. Diese Fixierung auf das Ökonomische allein halte aber die Gesellschaft, Europa und die Welt nicht zusammen, sagte Wilmer: "Was uns im Innersten zusammenhält, ist zweckfrei und lässt sich nicht vermarkten. Es ist etwas, das unser Menschsein zutiefst aufleben lässt." Unter diesem Aspekt sei für ihn Hoffnung vor allem in der Zeit der Pandemie der Schlüssel. "Ohne Hoffnung sterben wir. Hoffnung betrachte ich als ein Grundrecht. Ohne Hoffnung auf eine gute Zukunft hat Politik eigentlichen keinen Sinn", sagte der Theologe.

Die Gesellschaft wird nach Einschätzung des Bischofs nicht in die Verhältnisse vor der Pandemie zurückkehren. "Aber das ist auch eine Chance. Ich glaube, dass es uns entspannter und unsere Gesellschaft menschlicher macht, wenn wir einsehen, dass das Leben auch gelingen kann, wenn sich der Status quo verändert", sagte er.