Das kürzlich veröffentlichte Zukunftspapier der evangelischen Kirche hat eine Debatte unter Theologen ausgelöst. In dem Papier komme Gott nur noch als "Chiffre" für ein ethisch-humanitäres Programm vor, "das sich auch ganz säkular vertreten lässt", kritisierte der Wiener Theologe Ulrich Körtner. Das traditionelle Gemeinde- und Gottesdienstleben werde "im Geiste moderner Unternehmensberatung einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterzogen". Der ehemalige Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gerhard Wegner, bemängelte eine mangelnde Präzision des Textes.
Nach Wegners Lesart streben die Autoren des Dokuments die Preisgabe der ortskirchlichen Gemeindestruktur der Kirche an. "Sollte es tatsächlich so kommen, so entsteht nicht mehr Vielfalt, sondern ein kirchliches Ruinenfeld aus verlassenen Dorfkirchen und verkauften Pfarrhäusern", schreibt der evangelische Theologe, der vor gut einem Jahr als Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts in den Ruhestand ging, in der evangelischen Zeitschrift "zeitzeichen". Man müsse kein dogmatischer Verteidiger der Ortskirchengemeinden sein, um ihre Bedeutung für die Existenz der Kirche anzuerkennen. "Und wenn es heißt, dass man sich in Zukunft stärker auf die Glaubensweitergabe und das Zugehörigkeitsgefühl konzentrieren will, dann geht dies nur mit den Ortskirchengemeinden zusammen", so Wegner-
Glaubenskrise - auch in den Kirchenleitungen
Unter dem Titel "Kirche auf gutem Grund" hat die EKD Ende Juni elf Leitsätze veröffentlicht. Angesichts schwindender wirtschaftlicher Ressourcen und zunehmender gesellschaftlicher Säkularisierung soll das Papier die Basis der Diskussion und Entscheidungsfindung für die Zukunft der evangelischen Kirche sein. In dem Dokument heißt es wörtlich: "Parochiale Strukturen werden sich wandeln weg vom flächendeckenden Handeln hin zu einem dynamischen und vielgestaltigen Miteinander wechselseitiger Ergänzung." Parochie meint die regionale Struktur einer Kirche, im engeren Sinn die Gliederung in Gemeinden.
Der Wiener Theologe Ulrich Körtner vermisst in dem Thesenpapier klares christliches Profil. Die Glaubenskrise, die in dem Text diagnostiziert werde, habe "offenkundig auch die Ebene der Kirchenleitungen erfasst", schrieb er in einem Beitrag für die "Zeit"-Beilage "Christ & Welt" (30.7.) Wenn es in dem EKD-Papier heiße, die Kirche der Zukunft müsse missionarisch sein, so sei doch "nicht an Verkündigung und Seelsorge, sondern in erster Linie an ein sozialpolitisches Handeln gedacht", schrieb Körtner: "Kein Wort hingegen von Tod und Auferstehung Jesu, seiner Heilsbedeutung für den Einzelnen wie die Welt im Ganzen." Doch Kirche als "religiös angehauchte, aber ganz diesseitsorientierte soziale Bewegung" schaffe sich ab.
Auch der Bochumer Theologe Günter Thomas hatte sich in "zeitzeichen" kritisch über die Aussagen zur Zukunft der Ortskirchengemeinde geäußert und einen fehlenden Gottesbezug des Thesenpapiers festgestellt. "Die in den strukturellen Passagen der elf Leitsätze überall durchscheinende Option für die vermeintlich am Puls der Zeit agierende NGO-Bewegungskirche ist schlicht selbstzerstörerisch für die Kirche." Natürlich müsse sich die Ortsgemeinde ohne falsche Romantik weiterentwickeln in Richtung regionaler Vernetzung. Aber ohne lebendige Ortsgemeinden werde die Kirche untergehen, schrieb Thomas.
Die Leitsätze sind das Ergebnis der Arbeit des sogenannten Zukunftsteams. Es wurde 2017 von der EKD-Synode berufen. Das Papier dient der Vorbereitung auf die im November stattfindende EKD-Synode. Es wird in den kommenden Monaten von den Synodalen diskutiert.