Sie trägt den Namen der hinduistischen Göttin der Bildung und des Wissens. Und kaum jemandem könnte der Name Saraswathi besser stehen als dieser 20-Jährigen, die uns stolz im weißen Kittel im Schieffelin Institute empfängt, das sich der Behandlung und Erforschung der Lepra und anderer Krankheiten verschrieben hat. Das Institut liegt unweit der südindischen Stadt Vellore im Bundesstaat Tamil Nadu. Saraswathi absolviert hier eine vierjährige Ausbildung zur Krankenschwester. Dank eines Stipendiums der Ausbildungshilfe, einem Verein der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, war sie zuvor ein Jahr lang in Pravaham zur Pflegehelferin ausgebildet worden.
Pravaham ist ein Zentrum auf christlicher Grundlage, das sich der Gerechtigkeit verschrieben hat. Der Name Pravaham steht in der altindischen Sprache Sanskrit für "nie versiegender Bach" und bezieht sich auf eine Bibelstelle im Buch Amos (5, 24): "Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach." 40 Ausbildungsplätze für junge Frauen gibt es dort. Zum allergrößten Teil stammen sie aus der Gemeinschaft der Dalits, die noch unterhalb des Kastensystems angeordnet sind und früher als "Unberührbare" bezeichnet wurden. Heute wird dieser Begriff als beleidigend angesehen – die Strukturen sind aber gerade auf dem Land unverändert.
20 der jungen Frauen beziehen ein Stipendium der Ausbildungshilfe, die in diesem Jahr ihr 60-jähriges Bestehen feiert. Die Kollekte, die in den Konfirmationsgottesdiensten der Landeskirche eingesammelt wird, fließt traditionell der Ausbildungshilfe zu. In diesem Jahr wird die finanzielle Unterstützung von Pravaham und anderen Projekten dadurch erschwert, dass Konfirmationen wegen der Corona-Krise verschoben werden müssen. Auch Pravaham muss – wie alle Bildungseinrichtungen in Indien – pausieren. Die Familien der Schülerinnen, die auf Tageslöhne angewiesen sind, treffen Ausgangssperre und der Wegfall der Arbeit besonders hart.
Saraswathi kommt, wie so viele der Pravaham-Schülerinnen, aus ärmlichen Verhältnissen in einem Dalit-Dorf. Ihr Vater fährt Tuk-Tuk, die dreirädigen Motorroller gehören zu den wichtigsten Verkehrsmitteln in Indien, die Mutter ist Hausfrau. Saraswathis Bruder ist Lastwagenfahrer. Als junges Mädchen musste sie die Ziegen der Familie hüten, die diese von der Regierung im Rahmen eines Wohlfahrtsprogramms bekommen hatten. Einige Monate arbeitete sie auch in einer Fabrik für Kabelisolierungen, eine harte Arbeit, bei der sich die Arbeiterinnen immer wieder die Hände aufschneiden. Doch das Mädchen litt schwer unter Windpocken verbunden mit Unterleibsschmerzen und hatte keine Kraft für die Plackerei. Dann hörte sie über eine Freundin von Pravaham und sah eine Perspektive für sich. Wenn es nach ihrem Vater gegangen wäre, so erzählt sie, hätte sie weiterhin Geld für die Familie mitverdient und wäre bald verheiratet worden, so wie ihre Schwestern. Aber es gelang ihr, ihren Plan durchzusetzen, sich zu behaupten.
Heute, so sagt sie, steht sie um 4.30 Uhr am Morgen auf und lernt manchmal bis zwei Uhr in der Nacht. Neben der allgemeinen Ausbildung zur Krankenschwester gibt es auch spezifische Einheiten, zum Beispiel Geburtshilfe. Sie kümmere sich besonders gerne um arme Patienten, erzählt sie stolz, weil sie den Segen dieser Menschen auf sich spüre. Statt zu heiraten wolle sie lieber arbeiten, sagt die angehende Krankenschwester. Pravaham-Leiterin Lucy Shyamsundar, die die Lebensumstände der Frauen genau kennt, schränkt die Aussage etwas ein und empfiehlt ihr, sich zumindest einen Mann zu suchen, der ihre erlaubt, weiterhin zu arbeiten. Gar nicht verheiratet zu sein, das erscheint doch unrealistisch unter den gesellschaftlichen Bedingungen in Indien. Saraswathis eigentliches Ziel liegt nur wenige Kilometer entfernt: das renommierte Krankenhaus und Forschungsinstitut CMC (Christian Medical College) in Vellore.
Eine Ausbildung ist viel Wert
Saraswathis Weg macht deutlich, wie viel Energie und Durchsetzungsvermögen sie dafür brauchte: Zum Bewerbungsgespräch am Institut waren 60 Frauen gekommen, nur 20 wurden genommen. Drei Jahre Ausbildung und ein Jahr Praktikum, dann ist sie Krankenschwester. In ihrer Familie sei sie die einzige mit einer derart hochkarätigen Ausbildung. Bernd Kappes, Geschäftsführer der Ausbildungshilfe, hat die Schwesternschülerin noch vor der Corona-Krise in Indien getroffen und ist beeindruckt von ihrem Weg. Er sagt: "So wie Saraswathi möchten gerne auch andere junge Frauen aus Pravaham weiter studieren. Aber die vierjährige Ausbildung zur Krankenschwester ist teuer. Als Ausbildungshilfe wollen wir jedes Jahr den Traum von wenigstens zwei Schülerinnen unterstützen. Für diesen Zweck bitten wir gerade um Spenden."
Heute, sagt Saraswathi, sei ihr Vater stolz auf sie. Stolz auf die junge Frau, die den Namen der Göttin der Bildung und des Wissens trägt.
evangelisch.de dankt der Redaktion "blick in die Kirche" des Medienhauses der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck für die Kooperation.