Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. Segnet, die euch verfolgen; segnet, und verflucht sie nicht. Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug.
Liebe Fastende,
es regt sich etwas. Es ist nicht der Magen, der uns knurrt, es ist nicht der Wunsch nach einem Schluck Wein oder nach einem Zug an der Zigarette. In uns drängt die Sehnsucht nach einander. Wir haben es mehr und mehr satt, hungrig zu sein auf Gemeinschaft. Darum gelten wieder andere Regeln, Erlaubnisse werden gemacht. Gleichzeitig bleiben wir unsicher. Wie sollen wir miteinander umgehen? Wie viel Nähe ist angemessen? Wie viel Distanz ist klug? Soll ich wirklich beim ersten Besuch nach Monaten bei meinen Eltern darauf verzichten, sie in die Arme zu nehmen? Verhalten, das uns bisher selbstverständlich erschien, muss jetzt überdacht werden. Was uns immer eindeutig war, ist der Verunsicherung gewichen.
Ich werde nicht müde, es zu wiederholen, und ich hoffe, auch Sie mögen es noch einmal hören: Wir befinden uns in der Osterzeit. Fünfzig Tage lang feiert die Christenheit die totale Verunsicherung, die durch das leere Grab entstand. Wenn der Tod nicht mehr das Ende ist, dann kommt alles ins Wanken, auch der Alltag. Wie soll man denn noch miteinander umgehen, wenn der Tod nichts mehr bedeutet? Es wundert mich gar nicht, dass die ersten christlichen Gemeinden dazu neigten, die Regeln, die sie bislang oft fraglos befolgt hatten, nun über den Haufen werfen zu wollen. Die Vernichtung des Todes hat ähnliche Folgen wie das Hereinbrechen des Todes in Form eines Virus: Verunsicherung.
Wie gut, wenn es in Zeiten solcher Verunsicherung Menschen wie Paulus gibt. Paulus scheint es zu schaffen, für seinen Glauben zu brennen und gleichzeitig einen kühlen Kopf zu bewahren. Immer wieder gibt er in seinen Briefen klare Anweisungen, wie nach seiner Meinung ein geregeltes Leben im Glauben an den Auferstandenen zu führen ist. Der kleine Abschnitt, den ich für diese Woche ausgesucht habe, ist nur sieben Verse lang, aber er enthält einundzwanzig Anweisungen, das sind drei pro Vers, mehr als vier Hände voll erhobener Zeigefinger. Man kann sich davon abschrecken lassen und über die Fülle der Regeln seufzen, die Paulus hier aufstellt. Oder man schaut einmal genau hin und fragt sich: Was für eine Grundhaltung entsteht, wenn man all diese Imperative befolgt?
Es ist von Liebe die Rede, von einer Liebe, die geradezu darum wetteifert, besonders herzlich zu sein, zuvorkommend und allumfassend: den Geschwistern gegenüber, den Fremden, denen gegenüber, die die Gemeinde verfolgen. Diese Liebe ist emsig, geistreich und brennend. Sie ist voller Mitgefühl. Wer solche Liebe in sich hat, wird sich anstecken lassen vom Lachen wie vom Weinen der anderen. Diese Liebe speist sich aus dem Dienst an Gott und an den Nächsten. Und – das erwähnt der Apostel Paulus ganz zum Schluss – sie macht bescheiden.
Macht euch nicht größer, als ihr seid. „Haltet euch nicht selbst für klug.“ Dieser Satz passt so gar nicht in das, was wir 2000 Jahre später leben. Das Internet hat uns alle zu Experten gemacht. Die größte Enzyklopädie der Welt ist dadurch entstanden, dass jede und jeder daran mitschreiben kann. Und seit wir alle ohne viel Aufwand zu allem öffentlich unsere Meinung verbreiten können, macht sich ein Geist der Besserwisserei breit. Wenn nur genügend Leute behaupten, eine Sache verhalte sich anders, als die Experten es vertreten, dann werden diese Leute sich immer gewisser, dass man ihnen nur etwas vormachen will. Sie halten sich selbst für klug, und dadurch gefährden sie im schlimmsten Fall sich und andere.
Natürlich verbietet Paulus niemandem, selbst zu denken. Es geht ihm darum, seinen Gemeinden in unsicheren Zeiten ein Geländer zu bieten, an dem sie sich festhalten können. Paulus schreibt auf, wie sich nach seiner Ansicht die Botschaft von der Liebe Gottes unter denen ausdrücken soll, die Jesus Christus nachfolgen wollen. Meiner Meinung nach sind unter den 21 Vorschriften in unserem Wochentext viele ausgesprochen empfehlenswerte Regeln.
Darum lautet die Wochenaufgabe: Lesen Sie jeden Tag einmal diese sieben Verse, oder lassen Sie sich die Verse in unserem Podcast vorlesen. Spüren Sie beim Lesen, welcher Fingerzeig heute der wichtigste für Sie ist. Dann nehmen Sie sich vor, Ihren Tag an diesem Fingerzeig auszurichten. Halten Sie sich an die Regeln, die uns alle immer noch einschränken, und versuchen Sie auch hier zu erkennen, was über den vielen Vorschriften steht: Fürsorge.
Ich grüße Sie mit einem Gruß von Paulus: „Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren.“ (Philipper 4,7)
Ihr Frank Muchlinsky