Thomas aber, einer der Zwölf, der Zwilling genannt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich?s nicht glauben.
Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!
Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr, weil ihr glaubt, das Leben habt in seinem Namen.
Johannes 20,24–31
Liebe zwangsläufig Geduldige,
bestimmt haben Sie sich schon einmal in einem Gespräch mit Freundinnen, Freunden oder Verwandten darüber unterhalten, was Sie derzeit am meisten vermissen: die Nähe zu anderen, finanzielle Sicherheit, das Meer, die Berge, die Großeltern, die Enkel, die Gottesdienste in der eigenen Gemeinde, einfach unbeschwert zu sein, Freiheit, das Eiscafé, das Kino, die Oper, zusammen tanzen, ein volles Gehalt, die Schule, echte Ferien? Ich kann gerade gar nicht aufhören mit meiner Aufzählung. Sie werden selbst am besten wissen, was Ihnen besonders fehlt. Was immer es ist, es kommt daher, dass wir einander physisch nicht nahekommen dürfen.
Es ist eindrucksvoll, was für Konsequenzen es hat, wenn wir Abstand halten. Anscheinend brauchen wir die körperliche Nähe für alles, was unser Leben „normal“ macht. Darum habe ich für diese Woche eine berühmte Ostergeschichte ausgesucht, in der es um „normale“ und „unnormale“ – also besondere – Nähe geht. Sie erzählt von Thomas, der das Pech hatte, nicht dabei zu sein, als Jesus sich den anderen Jüngern zeigte. Das Johannesevangelium erzählt, wie zu Ostern der auferstandene Jesus zu seinen Jüngern kam, als die sich hinter verschlossenen Türen versammelt hatten. Warum mag Thomas gefehlt haben? Konnte er es nicht ertragen, im Haus hinter verschlossenen Türen zu sein? Brauchte er Abstand von den anderen? Frische Luft? Wir dürfen spekulieren. Auf jeden Fall konnte oder wollte er nicht mit den anderen Jüngern zusammen sein, nachdem die Frauen erzählt hatten, dass sie Jesus gesehen hatten.
Als Thomas von den anderen erzählt bekommt, dass sie nun ebenfalls Jesus begegnet seien, will er Beweise. Und die gibt es für ihn nur in der Begegnung, in der direkten körperlichen Nähe. „Ich muss ihn anfassen, damit ich es glauben kann!“ Thomas will die normale Nähe, und niemand macht ihm das zum Vorwurf, nicht einmal Jesus, als sie sich später tatsächlich begegnen. Jesus fordert ihn sogar auf, sich genau das zu nehmen, was er braucht. Weil für Thomas physische Nähe so wichtig ist, kommt Jesus anscheinend extra für ihn noch einmal zurück und fordert ihn auf: „Fass mich an!“ Spannend ist auch, dass die Bibel nicht erzählt, ob Thomas Jesus tatsächlich berührt. Jesus sagt anschließend lediglich: „Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du.“ Die Lutherbibel in der Version von 2017 setzt an das Ende dieses Satzes ein Fragezeichen, und dadurch klingen die Worte Jesu dann doch ein wenig vorwurfsvoll. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass es sich hier lediglich um eine Feststellung handelt.
Erinnern Sie sich an die allererste Fastenmail in diesem Jahr? Als ich Sie aufforderte, sich vorzustellen, wie Jesus die Worte „ihr Kleingläubigen!“ lächelnd sagt? Ich mag mir vorstellen, dass es hier ähnlich ist: Jesus weiß, was Thomas braucht. Er weiß, dass er sich Normalität wünscht, auch in puncto Nähe. Und er gibt Thomas – vielleicht lächelnd – die Chance, sich diese Normalität zu nehmen. Dann sagt er: „Selig sind, die nicht sehen und glauben!“
Macht uns das selig? Macht es uns besonders, dass wir die Nähe zu Jesus nicht mehr „normal“ herstellen können und sie dennoch empfinden? Die Formulierung „selig sind“ stammt aus der alttestamentlichen Tradition. Jesus hat sie anscheinend öfters verwendet. Berühmt sind die Seligpreisungen aus der Bergpredigt (Matthäus 5,3–11). Im Alten Testament kommt diese Formulierung vor allem in den Psalmen vor. Dort wird das hebräische Wort ????????, ’ašrê mit „Wohl dem …“ übersetzt. Julius Steinberg schreibt über die Seligpreisungen: „Wer einen anderen ,selig preist?, bringt seine Freude über dessen Glück zum Ausdruck.“ (Wibilex) Jesus freut sich also mit denen, die ihn nicht sehen und trotzdem glücklich sein können.
Selig sind, die allein zu Hause sitzen und dennoch Kontakt mit anderen haben. Selig sind, die das Meer nicht sehen, aber es in ihrer Erinnerung dennoch riechen können. Selig sind, die nicht in die Oper gehen können, aber eine alte Aufnahme von Maria Callas genießen können. Selig sind, die … Meine Wochenaufgabe für Sie lautet: Setzen Sie diese Liste fort! Bringen Sie Ihre Freude über das Glück zum Ausdruck, das Menschen empfinden, obwohl sie den normalen Weg nicht mehr gehen können! Formulieren Sie so viele Sätze, wie Sie können und mögen. Ich bin zuversichtlich: Das Glück färbt ab!
Wohl Ihnen allen!
Ihr Frank Muchlinsky
PS: Zwei Dinge will ich noch anfügen: Einige von Ihnen wollten gern wissen, wie der Satz „Als der HERR wandte Zions Geschick, waren wir wie Träumende“ sich auf Hebräisch anhört. Deshalb habe ich ihn aufgenommen und in den Artikel mit der vergangenen Fastenmail eingefügt: Sie finden ihn unter diesem Link.
Zweitens: Sie können sich den Bibeltext für diese Woche vorlesen lassen, Helge Heynold hat ihn wieder für uns eingelesen. Hören Sie die „Ohrenweide“ hier.