Der Mann, der die Kirche kritisierte

Der Berliner Altbischof Kurt Scharf
© epd-bild / Paul Langrock
Der Berliner Altbischof Kurt Scharf auf dem evangelischen Kirchentag 1989 in Berlin. Er starb vor 30 Jahren friedlich auf einer Linienbusfahrt.
Der Mann, der die Kirche kritisierte
Zum 30. Todestag von Kurt Scharf, EKD-Ratsvorsitzender und Berliner Bischof
Kurt Scharf war so etwas wie das Gegenmodell zu seinen Vorgängern und wohl auch zu den meisten heute amtierenden Bischöfen. Sein Bischofsamtskreuz trug er selten, meist fuhr er S- und U-Bahn oder Bus, den Dienstwagen ließ er am liebsten stehen. Die Bruderräte und die Bekennende Kirche waren und blieben sein Modell eines guten evangelischen Christentums. Das prägte sein ganzes Leben. Am 28. März jährt sich zum 30. Mal sein Todestag.

Der evangelische Theologe und Professor für Kirchengeschichte Christoph Markschies kann sich gut an Kurt Scharf erinnern. Markschies war in den 70er Jahren Konfirmand in Berlin-Dahlem und Scharf ein pensionierter Bischof. „Es gab damals die ersten Copy-Shops. Scharf kam immer mit einer Kunstleder-Einkaufstasche, etwas gebeugt mit einem knittrigen Regenmantel, und legte auf den Kopierer, meistens assistiert von dem Menschen an der Kasse, den Zettel von amnesty international mit dem Gefangenen des Monats“, erinnert sich Markschies heute. Die Kopien verteilte Scharf bei der Verabschiedung am Ausgang seiner Gottesdienste. Seine Botschaft: Gemeindechristen darf es nicht egal sein, was mit Gefangenen passiert. Sie müssen sich für sie einsetzen. Aus seiner evangelischen Überzeugung heraus war Scharf immer ein politischer Mensch, der sich bis ins hohe Alter für amnesty International und für die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste einsetzte.

Scharf, 1902 in Landsberg an der Warthe geboren, studierte Evangelische Theologie in Tübingen, Jena, Halle und Berlin. 1933 übernahm er die Pfarrstelle in Friedrichsthal und Sachsenhausen bei Oranienburg, in unmittelbarer Nähe zum Konzentrationslager. Scharf wurde zum führenden Mitglied der Bekennenden Kirche.

Mitte der 1930er Jahre wurde er Präses der Brandenburger Bekenntnissynode und Vorsitzender der Konferenz der Landesbruderräte. Präses - so wurde er noch später lange Zeit ehrfurchtsvoll angesprochen. Scharf kam in tagelange Gestapo-Haft, erhielt mehrfaches Rede- und Schreibverbot. Doch davon ließ er sich nicht beirren. So drang er auf einen Besuch bei dem Theologen Martin Niemöller, der seit 1938 im KZ Sachsenhausen „persönlicher Gefangener“ Adolf Hitlers war. Scharf brachte ihm am Karfreitag das Heilige Abendmahl.

 

Selbstkritik mit Blick auf Nazi-Regime

Die Bekennende Kirche mit Scharf als führendem Akteur galt nach 1945 als Widerstandsbewegung. Kritik an der zu großen Kompromisshaltung gegenüber dem Nazi-Regime kam erst von heutigen Kirchenhistorikern. Scharf aber übte schon 1982 anlässlich seines 80. Geburtstags deutliche Selbstkritik: „Es ist das schwere Versäumnis der Bekennenden Kirche. Im Jahre 1939 bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hätten wir zur Wehrdienstverweigerung aufrufen müssen. Im Jahre 1933 haben führende Männer der Bekennenden Kirche dem Führer ihre Staatstreue versichert. Martin Niemöller hat damals dem Führer gratuliert zum Austritt aus dem Völkerbund.“

Nach dem Krieg übernahm Scharf kirchliche Leitungsämter, wurde Propst und später Bischof der Berlin-Brandenburger Landeskirche. Von 1961-1967 war er Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hier setzte er andere Akzente als sein Amtsvorgänger, der altpreußische Kirchenbeamte und CDU-nahe Antikommunist Otto Dibelius. „Kurt Scharf lebte sehr stark in der bruderrätlichen Tradition der Bekennenden Kirche, einer kollektiven Vorstellung von Kirchenleitung. Er hatte tiefe Vorbehalte gegen das klassische hierarchische preußische System. Man würde das heute einen charismatischen Leitungsstil nennen“, sagt Markschies.

Pionier der Gleichberechtigung

So setzte sich Scharf für Frauen im Pfarramt ein. Schon als einfacher Pfarrer in Sachsenhausen ordinierte er während des Krieges zwei Frauen, gegen alle Kritik von oben. Scharf war damit ein Pionier der Gleichberechtigung. Aber nicht nur innerkirchlich beschritt Scharf neue Wege. Er verstand sein Amt immer auch als gesellschaftlichen und politischen Auftrag. So setzte er sich etwa für Versöhnung und Dialog mit dem kommunistischen Ostblock ein. Scharf: „Der Antikommunismus, der Anti-Bolschewismus ist die Krankheit unserer Zeit. Wenn die Menschheit überleben will, dann müssen sich die unterschiedlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen, die von drüben im Ostblock und die bei uns im westlichen Bereich einander annähern.“

Der frühere Ost-Berliner Bischof und langjährige Vorsitzende des evangelischen Kirchenbundes in der DDR, Albrecht Schö?nherr, am 15.11.1989 im Gespräch mit dem Berliner Altbischof Kurt Scharf (links) in Ost-Berlin.

Bischof Scharf gehörte 1965 zu den Vordenkern und Unterzeichnern der EKD-Ostdenkschrift, die zu Frieden und Verständigung mit den östlichen Nachbarn der Bundesrepublik Deutschland aufrief. Die Denkschrift und auch die dazugehörige öffentliche Diskussion bereitete später den Boden für die Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt.

Kritik an SED-Regime

Versöhnung mit dem Osten hieß für Scharf aber nicht, auf Kritik am SED-Regime zu verzichten. Er hatte die Repressalien der sozialistischen Diktatur selbst erlebt, bis zum Mauerbau 1961 wohnte er in Ost-Berlin. Nun aber wurde ihm der Zutritt in die DDR verweigert. So wurde er ein West-Berliner Bischof. Doch einer, der seine Bescheidenheit behielt. In seiner traditionelle Bischofskirche St. Marien unweit des Ost-Berliner Alexanderplatzes durfte er nicht mehr predigen. Anstatt sich aber die prominente Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in West-Berlin als neues Domizil zu erwählen, nahm er eine ganz normale Berliner Kirche in Berlin-Steglitz, die Patmos-Kirche, in der er jeden ersten Sonntag im Monat predigte.

Von links: Klaus von Bismarck, Präses Ernst Wilm, Bischof Kurt Scharf im Olympiastadion auf dem 10. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin, der vom vom 09. bis zum 23. Juli 1961 unter dem Motto "Ich bin bei euch" stattfand.

Die Studentenproteste in den 1960er Jahren beobachtete der Berliner Bischof zunächst mit Wohlwollen. Die spätere Radikalisierung und auch den Linksterrorismus der Roten Armee Fraktion verteidigte er nicht. Doch er besuchte die verurteilte RAF-Terroristin Ulrike Meinhof in der Haft – eine Pflicht als Seelsorger, wie er später erklärte. Diese Einstellung weckte scharfen Widerspruch, etwa vom RIAS- und späteren SFB-Hörfunkmoderator Matthias Walden: „Warum konnten sich immer nur die Linken auf ihn verlassen? Während die Konservativen sich von ihm verlassen fühlen mussten.“

Achtung von allen Seiten

In der Politik hingegen wurde Scharf über alle Lager hinweg hochgeachtet. Der CDU-Politiker und spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der mit Scharf mehr als zehn Jahre zusammen im EKD-Rat saß, glaubte ihm, dass das politische Engagement Teil seiner seelsorgerlichen Aufgabe war. Und der SPD-Spitzenpolitiker Herbert Wehner gestand sogar: „Das ist mein Verständnis für jemand, den ich liebe wie einen Bruder!“

Kurt Scharf bei der Friedensdemonstration während des Evangelischen Kirchentages in Hannover im Juni 1983.

Scharf beeindruckte mit seinen markanten Augenbrauen nicht nur optisch, sondern vor allem mit seinen klaren und unmissverständlichen Worten: „Ich fühle mich als ein evangelischer Christ, dem es darum geht, das politische Gewissen der Kirche zu schärfen, und zwar nach allen Seiten hin. Nicht nur in Frage der Außenpolitik, nicht nur in Fragen der Militärpolitik, sondern auch in den Fragen der Kulturpolitik und vor allem im sozialen Bereich.“

Am 28. März 1990 starb Kurt Scharf so, wie er gelebt hatte. Er stieg in einen Berliner Linienbus, setzte sich, schlief ein und wachte nicht mehr auf. In seiner entschiedenen christlichen Existenz kann er heute noch Vorbild nicht nur für Gemeindechristen, sondern gerade für Kirchenleitende sein.