Frankfurt a.M., Den Haag (epd). Myanmars De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi hat den Völkermord-Vorwurf gegen ihr Land zurückgewiesen. In einer Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof im niederländischen Den Haag sagte die Friedensnobelpreisträgerin am Mittwoch, Gambia habe ein "unvollständiges und irreführendes Bild" der Lage im Bundesstaat Rakhine gezeichnet.
Suu Kyi bezog sich auf die Klage, die das westafrikanische Gambia im Namen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit vor dem höchsten UN-Gericht eingereicht hatte. Darin beschuldigt Gambia die myanmarischen Streitkräfte des Völkermordes an der muslimischen Rohingya-Minderheit.
Suu Kyi betonte, dass die Lage im westlichen Rakhine-Staat, wo die meisten Rohingya lebten, "komplex" und durch "interne Konflikte" gekennzeichnet sei. So sei die Armee dort gegen bewaffnete Rebellen vorgegangen, unter anderem gegen die Rohingya-Miliz Arsa. Zwar könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Militär in manchen Fällen unangemessene Gewalt angewandt habe. Allerdings sei dies kein Beleg für einen beabsichtigten Völkermord, erklärte Suu Kyi.
Die Armee hatte in einem "Anti-Terror-Kampf" eine Offensive gegen die Rohingya-Bevölkerung begonnen, nachdem die Arsa-Miliz im Oktober 2016 und Ende August 2017 Grenzposten der Polizei und Armee überfallen hatte. Vor der Armee flohen 2017 mehr als 740.000 Rohingya ins benachbarte Bangladesch. UN-Gremien und Menschenrechtler werfen Myanmars Militär Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Die zivile Regierung unter Friedensnobelpreisträgerin Suu Kyi gilt als mitschuldig. Wiederholt hat sie das Vorgehen der Streitkräfte verteidigt.
Entsprechend scharf war die Kritik an der einstigen Oppositionsführerin, die unter dem früheren Militärregime eine politische Gefangene war: Suu Kyi versuche, das Unentschuldbare zu entschuldigen, schrieb der Vize-Asien-Chef von "Human Rights Watch", Phil Robertson, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.
Ähnlich äußerte sich Amnesty International: "Suu Kyi hat versucht, die Schwere der Verbrechen an den Rohingya herunterzuspielen", kritisierte Amnesty-Südostasien-Chef Nicholas Bequelin. "Der Exodus von mehr als einer dreiviertel Million Menschen aus ihren Häusern und Ländereien war nichts anderes als das Ergebnis einer orchestrierten Kampagne von Mord, Vergewaltigung und Terror." Der Hinweis, Myanmar könne die für die Verbrechen Verantwortlichen strafrechtlich belangen, sei nichts weiter als ein Hirngespinst. Das zeige sich daran, dass Täter aus höheren Militärkreisen seit Jahrzehnten straffrei davon kämen.
Gambia fordert unter anderem, der Internationale Gerichtshof müsse Myanmar unverzüglich "einstweilige Anordnungen" auferlegen, um systematische Gräuel an den Rohingya zu unterbinden. "Genozid geschieht nicht aus einem Vakuum heraus", erklärte der gambische Generalstaatsanwalt und Justizminister Abubacarr Tambadou am Dienstag. Misstrauen und hetzerische Propaganda hätten dafür gesorgt, die Opfer zu entmenschlichen.
Juristen, die zur Unterstützung Myanmars auftraten, erklärten, Gambia habe die Absicht eines Völkermordes nicht belegen können. Auch sei das westafrikanische Land nicht in der Lage gewesen, konkrete Zahlen von Toten zu benennen. Dieses Argument kritisierten Menschenrechtler ebenfalls scharf: Es sei Suu Kyis Regierung gewesen, die sich geweigert habe, unabhängige Beobachter ins Land zu lassen.
Die Klage des westafrikanischen Landes stützt sich wesentlich auf einen Untersuchungsbericht der Vereinten Nationen von 2018. Erst kürzlich hatten die UN-Ermittler bekräftigt, dass die etwas mehr als 500.000 in Myanmar zurückgebliebenen Rohingya weiterhin der systematischen Verfolgung durch Armee und Grenzpolizei ausgesetzt und von Völkermord bedroht seien. Die Anhörungen in Den Haag sind bis Donnerstag angesetzt.