Die erste Aufregung hat sich gelegt: Niemand will den Sonntagsgottesdienst abschaffen. Auch die Verfasser der Kirchgangsstudie, die die Debatte ausgelöst hatten, wollen das nicht. Die Gemeinden müssten aber überlegen, wie in Zeiten schwindender Besucherzahlen die personellen Ressourcen sinnvoll genutzt werden können, sagt die Theologin Julia Koll. Sie ist die Leiterin der Kirchgangsstudie 2019 der Liturgischen Konferenz in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die Autoren hatten nach der Auswertung der Daten von rund 10.400 Befragten mit dem Fazit Aufsehen erregt, dass mit Blick auf die geringe Reichweite des Sonntagsgottesdienstes "vielerorts engagierter und ergebnisoffener über seinen Fortbestand diskutiert werden" müsse.
Dass der traditionelle Gottesdienst noch Mittelpunkt der Gemeinde sei, behauptet bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum niemand. Dort wurden die Ergebnisse der Studie diskutiert. Laut dem Bonner Theologieprofessor Michael Meyer-Blanck erwarten die Menschen von einem guten Gottesdienst, dass er sie religiös und persönlich anspricht. Dafür sei die Form zweitrangig.
Die Feuerwehr macht das Krippenspiel
Der Vorsitzende der Liturgischen Konferenz sieht das Heil daher nicht in einer noch größeren Differenzierung und immer mehr besonderen Gottesdiensten für bestimmte Zielgruppen. Eine religiöse Motivation sei bei vielen Besuchern der zunehmenden Kasualgottesdienste anlässlich von Taufe, Beerdigung oder Einschulung fraglich. Man gehe dann eher Verwandten oder guten Freunden zuliebe in die Kirche. "Einige kennen den Kirchgang offensichtlich vor allem aus sozialer Nötigung", sagt Meyer-Blanck.
Dass die Frage eines regelmäßigen Sonntagsgottesdienstes oft eine Frage der Ressourcen ist, schildert Dankmar Pahlings. Er ist Pfarrer im Kirchenkreis Köthen der Landeskirche Anhalts. Er erzählt von seinem Alltag mit sechs Gemeinden, die er zu betreuen hat. Die kleinste habe 22 Mitglieder. Er kenne Gemeinden in der Umgebung, in denen niemand zur Christvesper komme. Pahlings setzt deshalb Kooperationspartner: Er ließ die örtliche Kinderfeuerwehr das Krippenspiel gestalten. "Es gibt bei uns gemeinsame Veranstaltungen, die nicht mehr alle Gottesdienst nennen", sagt der Pfarrer. Aber es gibt sie.
Lebensbedürfnisse berücksichtigen
Die Erosion der Kirche in der Gesellschaft ist nicht überall so extrem. Dennoch überlegt Helmut Wöllenstein, Propst des Sprengels Marburg in der Kirche von Kurhessen-Waldeck, ob man den Gottesdienst erst ab einer Mindestzahl von zehn Besuchern stattfinden lassen sollte. Zumindest gebe es in seiner Kirche das bislang ungeschriebene Gesetz, dass ein Pfarrer oder eine Pfarrerin maximal zwei Gottesdienste pro Sonntag anbieten solle. "Um dem Burn-out vorzubeugen", sagt er. Wer vom Sonntag abrücken wolle, würde jedoch aus der Kirchengeschichte aussteigen und in der Ökumene Befremden hervorrufen, ist Wöllenstein überzeugt. Die Katholiken hätten immer noch ihre Sonntagspflicht. Nicht zuletzt würde die Kirche gegenüber dem Staat die Plausibilität des Feiertagsschutzes zur Disposition stellen, wenn sie den Sonntag nicht mehr als heiligen Tag begeht.
An der Verbindung von Gottesdienst und den Lebensbedürfnissen nicht religiös sozialisierter Menschen werde sich für die Zukunft der Kirche eine Menge entscheiden, gibt Emilia Handke, Leiterin der Arbeitsstelle "Kirche im Dialog" der Nordkirche, zu bedenken. "Menschen werden uns dort wertschätzen, wo wir ihnen das Leben erleichtern." Dafür dürfe man schon mal zu ungewöhnlichen Methoden greifen. So habe ein junger Pastor in Hamburg das Predigtthema seines nächsten Gottesdienstes beim Online-Auktionshaus "ebay" versteigert. Immerhin 205 Euro kamen so für die Kollekte zusammen. Der Themenwunsch des Meistbietenden: "Kommt man auch mit einer vier minus ins Reich Gottes?"