Käthe Stäcker klopft sich gründlich die Schuhe ab, bevor sie das Haus Nummer vier im Baugebiet am Rande der niedersächsischen Stadt Hitzacker betritt. Die Straße auf einem ehemaligen Acker ist unbefestigt, da bleiben Sandspuren auf dem unbehandelten Dielenboden trotz aller Mühe nicht aus. Nummer vier ist die Keimzelle eines Projektes, das Stäcker "Dorflabor" nennt: "Wir wollen hier ökologisch, interkulturell und mit mehreren Generationen zusammenleben", sagt die 67-Jährige Pastorin im Ruhestand. Sie gehört zu den ersten 60 Personen, die an den sandigen Weg ziehen werden, den sie hier "Dorfstraße" nennen.
Mittlerweile haben sich fast 200 Frauen und Männer einer im Frühjahr 2016 gegründeten Genossenschaft angeschlossen. Im "Hitzacker Dorf" wollen sie bezahlbaren Wohnraum für 300 Menschen und Gewerberäume schaffen. In Zeiten von Wohnungsmangel erleben etwa kommunale Wohnungsbaugenossenschaften wieder Konjunktur. Dass sich Privatleute zusammentun, um gemeinschaftlichen Wohnraum zu schaffen, sei in dieser Größenordnung aber ungewöhnlich, sagt Hans-Peter Leimbach vom Genossenschaftsverband - Verband der Regionen mit rund 2.600 Mitgliedsgenossenschaften.
Familien, Flüchtlinge und Ältere
Den Initiatoren in dem Städtchen an der Elbe geht es allerdings noch um mehr. "Der Mut und der Schwung der Anfangszeit kommt auch von Menschen, die sich hier im Widerstand gegen die Atomanlagen in Gorleben und in der Flüchtlingsarbeit engagieren", sagt Stäcker, die später dazugestoßen ist. Nach Möglichkeit sollen ins Dorf ein Drittel junge Familien und Alleinerziehende, ein Drittel Flüchtlinge und ein Drittel Ältere ziehen. "Bei den Flüchtlingen haben wir das bisher noch nicht ganz erreicht", sagt Stäcker. "Aber wir halten daran fest." Zu den Anwärtern zählten auch Familien aus Afghanistan. Die Baugruppe der Genossenschaft habe bei den Planungen höchste Ökostandards festgelegt. So werden die Fenster wegen der Transportwege doch aus Eiche statt sibirischer Lärche gefertigt: "Der biologische Fußabdruck soll so gering wie möglich sein."
Sechs Häuser sind derzeit im Werden. Auch auf dem angrenzenden "Südhang", der noch einem Bauern gehört, will die Genossenschaft bauen. Nummer vier ist das bisher einzige bewohnte Haus. Dort lebt seit Juli unter anderen eine Alleinerziehende mit ihren Kindern. Im Erdgeschoss hat die Genossenschaft ihren Gemeinschaftsbereich, in dem vom angestrebten Geist schon ein wenig zu spüren ist. Aus der offenen Küche klingt ein Sprachengemisch. Die "Kochgruppe" schnippelt gemeinsam mit freiwilligen Unterstützerinnen aus einem internationalen Jugendcamp Gemüse. Durch Eigenleistung will die Genossenschaft 13 Prozent der Baukosten sparen. Auf der Baustelle herrscht Betrieb, weil deshalb immer wieder Mitglieder anreisen.
Jeder hat gleiches Stimmrecht
Heike Metze schraubt mit Mann und Tochter Verschalungsbretter an eines der Gebäude. Die Familie packt schon mal mit an, auch wenn von dem Haus, in das sie sich einmal einmieten wollen, noch nicht einmal das Fundament gegossen ist. "Wir hatten ein schönes Haus rund 30 Kilometer entfernt", sagt die Lerntherapeutin. Jetzt ist es verkauft für die Vision von einem Leben, bei dem Gemeinschaft vor Eigentum steht. "Ein Abenteuer", sagt Metze mit einem Schmunzeln.
Um das Projekt zu finanzieren, haben die Frauen und Männer Anteile in die Genossenschaft eingebracht, je nach Größe der zukünftigen Wohnung. Für rund sechs Euro pro Quadratmeter können sie sich später einmieten. "Und es gibt einen Solidarfonds", sagt Stäcker. Für diejenigen, die ihren Anteil nicht voll aufbringen konnten, sind andere eingesprungen und haben mehr gezahlt. Zum Genossenschafts-Konzept gehört, dass jede und jeder das gleiche Stimmrecht hat - unabhängig von der Höhe der Einlage. Entschieden wird basisdemokratisch. "Mit vielen über alles einig werden, das ist total spannend", schwärmt Sylvia Soler, während sie mit schwungvollem Pinselstrich eine Grundierung für den Lehmputz aufträgt.
Ob das Experiment gelingt, ist offen. Doch vieles sei bereits gewachsen, sagt Soler. So holten Ältere als "Ersatzomas" schon mal Kinder aus der Tagesstätte ab. Wenn es gelinge, könne ihr Dorfmodell auch "eine begeisternde Vision" für die Gesellschaft sein. Eigentlich sei das Gelände ein Teil der Stadt Hitzacker, der Name Dorf ein Sinnbild, fügt Stäcker an: "Wir wollen die alte Vorstellung vom Dorf in die Zukunft transformieren."