Leipzig (epd). Der Bundesgerichtshof (BGH) hat das Selbstbestimmungsrecht sterbewilliger Patienten gestärkt. Ärzte, die Selbsttötungen begleiten, könnten sich nur dann strafbar machen, wenn ihre Patienten nicht in der Lage seien, sich einen "freiverantwortlichen Selbsttötungswillen" zu bilden, urteilte der fünfte Strafsenat des BGH am Mittwoch in Leipzig. Zudem müssten die Ärzte keine Rettungsmaßnahmen ergreifen, wenn sie damit gegen das Selbstbestimmungsrecht der Sterbewilligen verstießen. (AZ: 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18)
Mit dem Urteil rückte der BGH von seiner eigenen Rechtsprechung aus dem Jahr 1984 ab. Im sogenannten Wittig-Urteil hatten die Richter Ärzten damals eine grundsätzliche Rettungspflicht gegenüber bewusstlos gewordenen Suizidenten auferlegt. Daraus hatten sich Widersprüche mit dem 2009 verabschiedeten Patientenverfügungsgesetz ergeben.
Seit dessen Inkrafttreten können Menschen notariell festlegen, ob in Fällen, in denen sie selbst nicht mehr entscheiden können, Maßnahmen zur Rettung ihres Lebens ergriffen werden sollen oder nicht. Ist diese Verfügung korrekt verfasst, dürfen Ärzte sich nicht über den darin enthaltenen Patientenwillen hinwegsetzen.
Konkret bestätigte der BGH am Mittwoch die Freisprüche zweier Ärzte der Landgerichte Berlin und Hamburg. In dem Berliner Fall hatte der Hausarzt Christoph T. einer langjährigen, damals 44 Jahre alten Patientin ein Schlafmittel in tödlicher Dosis verschrieben. Die seit ihrem 16. Lebensjahr schwer, aber nicht lebensbedrohlich Kranke nahm das Mittel ein. Der Arzt besuchte sie an drei darauffolgenden Tagen, leitete aber bis zum Eintritt des Todes keine lebensrettenden Maßnahmen ein.
Das Berliner Landgericht sprach Christoph T. im März 2018 vom Vorwurf der Tötung auf Verlangen durch Unterlassen frei. Die Staatsanwaltschaft beantragte die Revision beim BGH, die nun verworfen wurde.
In dem Hamburger Fall hatte der Mediziner und Psychologe Johann Friedrich S. im Auftrag des Vereins "Sterbehilfe Deutschland" ein Gutachten über zwei damals 81 und 85 Jahre alte Frauen erstellt. Diese waren sozial gut eingebunden und geistig rege, fürchteten sich jedoch vor einer möglichen Pflegebedürftigkeit und beschlossen, sich gemeinsam das Leben zu nehmen. Auf Wunsch der beiden Frauen begleitete S. den Sterbeprozess. Die Frauen nahmen ein todbringendes Medikament ein, auch S. leitete keine Rettungsmaßnahmen ein.
Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen Totschlags. Das Landgericht Hamburg hatte ein Verfahren gegen S. zunächst abgelehnt. Nach einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft wurde es doch noch eröffnet. Im November 2017 wurde S. freigesprochen. Auch die Revision gegen dieses Urteil hat der BGH nun verworfen.
Der humanistische Verband Deutschlands begrüßte das Urteil. Es setze die "völlig überholte und widersinnige" BGH-Entscheidung von 1984 zur Rettungspflicht bei freiwilligen Selbsttötungen endlich außer Kraft, erklärte der Verband.
Der Verein "Sterbehilfe Deutschland" sprach von einer "epochalen Abkehr" von der Wittig-Entscheidung. "Sterbehelfer dürfen künftig beim Sterbenden bleiben, weil dessen Sterbewunsch auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit beachtlich bleibt", erklärte der Verein. Damit sei eine jahrzehntelange Rechtsunsicherheit beseitigt.
Die FDP-Bundestagsabgeordnete Katrin Helling-Plahr sagte, der BGH habe den bekundeten Willen der Betroffenen ins Zentrum gerückt. "Dieses Urteil gibt allen Befürwortern einer Liberalisierung der Sterbehilfe Rückenwind", erklärte sie.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisierte die Bestätigung des Freispruchs für den Berliner Arzt indes als unverständlich. "Tagelanges Ringen mit dem Tod, Hausbesuche zur Todesfeststellung und aktive medizinische Hilfestellung sind keine Sterbebegleitung oder palliative Therapie", erklärte die Stiftung: "Der BGH hätte die Aufgabe gehabt, dies klarzustellen."