Es ist ein lauer Abend im osthessischen Heringen (Werra), ganz nah an der Grenze zu Thüringen. Fast überall in der Stadt geht es ruhig zu, gemächlich – außer auf dem Platz vor der Evangelischen Stadtkirche. Dort tummeln sich die Leute, essen und trinken, lachen und unterhalten sich. In dieser entspannten Atmosphäre warten sie darauf, dass sie endlich in die Kirche dürfen. Denn da treten an diesem Abend die Prinzen im Rahmen ihrer Kirchentour auf.
Um Punkt 19 Uhr strömen die Menschen in die Kirche. Alle wollen möglichst nah an der Bühne sein. Schnell füllen sich die Reihen. Es sind überwiegend Menschen, die die 40 bereits überschritten haben. Aber hier und da sieht man auch ein paar junge Gesichter. Die 22-jährige Lea begleitet an diesem Abend ihre Mutter. "Die Prinzen sind zwar nicht ganz meine Generation, aber natürlich kenne ich einige Lieder von ihnen. Um die kommt man ja nicht drum herum", erzählt sie lächelnd.
Und dann betreten die sieben "Prinzen" unter dem Jubel der Zuschauer die Bühne. Wortlos stellen sich die fünf Sänger Schulter an Schultern auf und singen in feinster A-cappella-Manier den italienischen Lobgesang "Alta Trinita Beata", den man ansonsten zum Beispiel von Auftritten des Leipziger Thomanerchors kennt. Noch nicht mal Mikrofone brauchen sie, ihre Stimmen tragen die Töne auch bis in den letzten Winkel der Kirche. Und das Publikum jubelt ihnen zu.
Dass eine der erfolgreichsten deutschen Bands in der Kirche einer Kleinstadt wie Heringen auftritt, liegt auch an der Arbeit von Pfarrer Thorsten Waap, Popkantor Matthias Weber und dem Engagement der vielen Ehrenamtlichen. Denn sie haben aus einer unglücklichen Situation das Beste gemacht.
Bis 2009 hat die Heringer Kirchengemeinde noch zwei Pfarrstellen und es gibt beim Kirchenkreis eine Kantorenstelle. Dann wird eine Stelle gestrichen und auch die der Kantorei ist in Gefahr. "Ich war wie vor dem Kopf gestoßen", erinnert sich Pfarrer Waap. Die Frage, wie er die Arbeit, die früher zwei Menschen mit 100 oder gar 120 Prozent gemacht haben, plötzlich alleine stemmen soll, treibt ihn um. Und auch die Gemeinde sieht sich vor einem Abgrund, hat das Gefühl, dass plötzlich alles zusammenbricht. Eine Situation, die aufgrund des Strukturwandels vielen Kirchengemeinden nur zu gut bekannt ist.
Doch statt zu kapitulieren und den Kopf hängen zu lassen, gründen die Kirchenmitglieder in Heringen den Christophorus-Förderverein. 80 Mitglieder hat er mittlerweile, aus den Mitgliedsbeiträgen wird die Hälfte des rund 10.000 Euro Etats bestritten, die andere Hälfte kommt durch Spenden und Eintrittsgelder zusammen. Dank des Fördervereins konnte zumindest eine halbe Kantorenstelle "gerettet" werden. Und die Mittel des Fördervereins geben der Kirchengemeinde auch in anderen Bereichen mehr Freiheit. "Wir wollen uns hier ein Stück weit unabhängiger von der Versorgungskirche machen, die Dinge vorgibt und Gelder verteilt", erklärt Waap. Wohin genau sich die Gemeinde entwickeln soll, hat er klar vor Augen. "Wir wollen viel lieber eine Beteiligungsgemeinde sein, in der "von unten" gestaltet werden kann."
Zu diesem Gestaltungskonzept "von unten" gehöre auch, dass man sich dafür interessiere, was die in der Gemeinde Engagierten wollen, bevor man versuche alle anderen irgendwie glücklich zu machen. Es habe sich dann sehr schnell herausgestellt, dass die Engagierten zum Beispiel die Musik, die sie privat hören, gerne in der Kirche aufgeführt sehen würden. Ein Wunsch, dem sich viele nicht-engagierte Menschen anschließen, wie die Erfahrung der Kirchengemeinde bei zahlreichen Veranstaltungen gezeigt hat.
Für Pfarrer Waap ist das gar kein Problem, ganz im Gegenteil. Er begrüßt den Einzug der "modernen" Musik in seine Kirche: "Warum müssen Kirchenlieder im 19. Jahrhundert aufhören? Oder, wenn man das "Danke"-Lied mitzählt, im 20. Jahrhundert? Das ist doch nichts, was mich, was uns im normalen Leben prägt."
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass der Zugang zu den unterschiedlichen Generationen in der Gemeinde über die Musik laufe und dass jede Generation da auch ganz spezifische Eigenheiten aufweise. Und selbst seine Generation, so Pfarrer Waap, werde nicht mehr durch die Musik angesprochen, die klassischerweise in Kirchen gesungen wird. Warum also trotzdem weiterhin darauf beharren? "Das ist unser Haus und das ist Gottes Haus. Wir haben das bezahlt und deshalb sind wir nicht nur sonntags hier, sondern wir wollen, dass das, was uns bewegt, auch hier in der Kirche vorkommt", sagt Pfarrer Thorsten Waap überzeugt.
"Ich hätte mir früher nicht mal vorstellen können, dass es so was in einer Kirche geben kann", erzählt Werner Pflaum, der als Küster der Gemeinde bei den Konzertvorbereitungen eine elementare Rolle gespielt hat. Mittlerweile sind solche kulturellen Großereignisse in der Heringer Stadtkirche fast schon Alltag: Große Gospelworkshops, Erwachsenenkrippenspiele, Theater, Konzerte und noch vieles mehr steht auf dem Programm. "Selbst Kirchenferne finden hier eine Nische", so Hannelore Heymann. Die Kirche sei im Ort für die Kultur zuständig – entweder, weil sie sie selbst anbietet oder weil sie den Kulturschaffenden Raum bietet.
Für die Ehrenamtlichen ist an diesem Abend nicht ganz so viel zu tun wie sonst. "Wir haben die Bühne gestellt, aber mit dem Aufbau, der Abendkasse und allem anderen hatten wir nichts zu tun", so Kirchenvorstandsmitglied Claus Heymann. Für Essen und Trinken draußen sorgt ein anderer Verein aus der Stadt. Das war eine bewusste Entscheidung, durch die nicht nur die Ehrenamtlichen entlastet werden sollten. "Uns ist es wichtig, dass die Kirche wieder zum Mittelpunkt der Stadt wird und sich durch ihr Engagement auch für die öffnet, die vielleicht sonst nichts mit Kirche am Hut haben", sagt Heymann. Niedrigschwellige Angebote und Offenheit gehören deshalb quasi zur DNA der Gemeinde.
Der Erfolg solcher Angebote lässt sich womöglich auch daran messen, dass viele Besucher, die schon beim Gastspiel der Prinzen vor zwei Jahren dabei gewesen sind, an diesem Abend wieder auf den Kirchenbänken Platz genommen haben.
Dazu gehören auch Karin und Matthias. "Letztes Mal war das Konzert einfach der Wahnsinn, unbeschreiblich", erinnert sich Karin. Als sie dann hörte, dass die Prinzen wiederkommen, hat sie sofort Karten gekauft. "Ich finde es sehr gut, dass die Kirchengemeinde das organisiert und dass sowas in der Kirche stattfinden kann."
Auch Pfarrer Waap ist der erste Auftritt der Prinzen noch gut in Erinnerung: "Das war eine unglaubliche Stimmung. Es hat fast so eine Clubatmosphäre, weil die Kirche nicht so klassisch-sakral ist."
Die besondere Atmosphäre wissen auch die Prinzen zu schätzen – nur zu gut erinnern sie sich daran, wie sich die Kirche vor zwei Jahren in einen "Hexenkessel" verwandelt hat. Sebastian Krumbiegel und Tobias Künzel sind auch an diesem Abend mit ihren Entertainer-Qualitäten maßgeblich daran beteiligt, dass die Stimmung stimmt. Es ist aber auch eine gute Mischung aus alten Hits wie "Millionär", "Alles nur geklaut" oder "Küssen verboten", die alle lautstark mitsingen und mitklatschen, und neueren Songs, die die Prinzen an diesem Abend zum Besten geben. Außerdem streuen sie immer mal wieder Lieder ein, die vom Glauben ("Backstagepass ins Himmelreich") oder von der Bibel ("Zurück ins Paradies") erzählen und das kommt beim Publikum selbstverständlich gut an.
Aber auch die (mehr oder minder) philosophischen Gedanken à la "Liebe tut weh. Essen macht dick. Leben strengt an" entlocken dem Publikum ein Lachen. Dass die Menschen aber auch bei politischen Texten abgehen, merkt man am lautstarken Applaus nach dem Lied "Bombe", dessen Strophe gegen Rechtsextremismus selbst nach Jahrzehnten noch hochaktuell ist. "Man hat das Gefühl, dass hier nur junge Leute unter 40 zugelassen sind, so eine fantastische Stimmung macht ihr hier", schmeichelt Sebastian Krumbiegel in seinen glitzernden Slippern den Zuschauern, denen das runtergehen muss wie Öl, haben doch die meisten die 40 schon länger hinter sich gelassen.
Nach zwei Stunden und einigen Zugaben verabschieden sich die Prinzen stilecht so, wie sie bereits angefangen haben: Mit einem Kirchenlied. Aus ihren Kehlen erklingt der Lutherchoral "Verleih uns Frieden" und innerlich breitet sich nach dem aufgeheiztem Klatschen, Singen und Schunkeln eine Ruhe aus.