Das "Judensau"-Relief darf vorerst an der Fassade der Stadtkirche Wittenberg hängen bleiben. Das Vorhandensein der rund 700 Jahre alten Spottplastik könne nicht als Kundgabe der Nichtachtung oder Missachtung gegenüber Juden in Deutschland verstanden werden, urteilte das Landgericht Dessau-Roßlau am Freitag. Gegen das Urteil kann innerhalb von vier Wochen nach der schriftlichen Zustellung Berufung eingelegt werden.
Richter Wolfram Pechtold erklärte, es bestehe kein Beseitigungsanspruch seitens des jüdischen Klägers. Auch liege keine von der evangelischen Stadtkirchengemeinde ausgehende Beleidigung im Sinne des Paragrafen 185 im Strafgesetzbuch vor. Das mittelalterliche Relief sei Teil eines historischen Baudenkmals, erklärte das Gericht. Die Gemeinde habe es weder hergestellt noch aufgehängt. Vertreter der Prozessbeteiligten waren nicht zu der Urteilsverkündung erschienen.
Der Vorsitzende des Gemeindekirchenrats der Stadtkirchengemeinde, Jörg Bielig, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Wittenberg, er sei froh über die Feststellung des Gerichts, dass die Plastik keine Beleidigung darstelle. Er wolle jedoch betonen, dass es in diesem Prozess "keinen Sieger und keinen Verlierer gibt", sagte Bielig. Der Gemeindekirchenrat habe immer erklärt, "dass wir Verständnis für das Anliegen des Klägers haben", fügte er hinzu.
Kläger Michael Düllmann ist Mitglied der jüdischen Gemeinde in Berlin. Er sieht sich durch die Plastik in seiner Ehre verletzt. Beim einzigen Verhandlungstermin Anfang April hatte er angekündigt, seine Klage notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen. Düllmanns Anwalt Hubertus Benecke sagte, Düllmann sei grundsätzlich bereit, Berufung gegen das Urteil einzulegen. Um Genaueres sagen zu können, müsse er jedoch die schriftliche Urteilsbegründung abwarten, erklärte der Anwalt. Mit Düllmann habe er noch nicht sprechen können. Nächsthöhere Instanz ist laut Richter Pechtold das Oberlandesgericht Naumburg.
Das Sandsteinrelief war um das Jahr 1300 an der Südfassade der Stadtkirche angebracht worden. Es zeigt eine Sau, an deren Zitzen sich Menschen laben, die Juden darstellen sollen. Ein Rabbiner blickt dem Tier unter den Schwanz und in den After. Schweine gelten im Judentum als unrein. Mit solchen Darstellungen sollten Juden im Mittelalter unter anderem davon abgeschreckt werden, sich in der jeweiligen Stadt niederzulassen. Ähnliche Spottplastiken finden sich an mehreren Dutzend weiteren Kirchen in Deutschland.
Die Stadtkirchengemeinde ließ 1988 eine Bodenplatte unterhalb des Reliefs anbringen. Ihre Inschrift nimmt Bezug auf den Völkermord an den Juden im Dritten Reich, die Plastik selbst findet jedoch keine Erwähnung. Der Wittenberger Stadtrat sprach sich Mitte 2017 für den Erhalt der Plastik aus. Er wertete die Bodenplatte als Mahnmal und ließ in Absprache mit der Gemeinde eine Stele mit Erklärtexten auf Deutsch und Englisch errichten.
Der Direktor der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg und künftige Bischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, sagte MDR Kultur, der Streit um die "Judensau" lasse sich nicht juristisch lösen. Er plädierte dafür, die umstrittene Plastik im Rahmen eines Erinnerungsortes weiterzuentwickeln: "Ich denke, dass sich eine einmal bestehende Beleidigung nicht durch Kommentierung oder Einordnung aufhebt", sagte Kramer. Niemand wolle die Zerstörung der Plastik. Der nächste Schritt wäre jetzt, an der Stelle ein Denkmal zu bauen, in dem die Sau stärker zu sehen wäre und die Plastik integriert wird, sagte der Theologe.
Im Jahr des 500. Jubiläums der Reformation 2017 hatte die Debatte um die Spottplastik an der Wirkungsstätte von Reformator Martin Luther (1483-1546) erneut an Fahrt aufgenommen. Luther hetzte insbesondere in seinem Spätwerk gegen Juden.