Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat ein entschlossenes Vorgehen gegen Antisemitismus angemahnt. Alle stünden gemeinsam in der Pflicht und der Verantwortung, Werte und Grundrechte zu schützen, sagte sie bei einem Festakt der Deutschlandstiftung Integration anlässlich von 70 Jahren Grundgesetz am Dienstag in Berlin. "Das gilt ganz besonders dann, wenn wir uns Rassismus und Antisemitismus, Hass und Gewalt entgegenstellen müssen - und zwar mit allen Mitteln, die der Rechtsstaat bietet." Der am gleichen Tag veröffentlichten Kriminalstatistik zufolge stieg die Zahl antisemitischer Straftaten 2018 massiv an.
Merkel würdigte in ihrer Festrede zum Verfassungsjubiläum die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, die für ihr Engagement als Zeitzeugin den erstmals vergebenen "Talisman"-Preis der Deutschlandstiftung Integration erhielt. Die Kanzlerin sprach der 97-Jährigen ihren Dank aus, dass sie so viel Gutes stifte ausgerechnet in dem Land, in dem sie soviel Grausamkeit erlebt habe. Das tue sie, indem sie mit Schülerinnen und Schülern über ihre Geschichte und über den Zivilisationsbruch der Schoah spreche. Nur wer die Vergangenheit kenne und Verantwortung dafür annehme, könne auch die Zukunft gut gestalten. Dafür brauche es Botschafter der Menschlichkeit.
Friedländer erzählte, wie sie im Jahr 2010 im Alter von 88 Jahren und nach mehr als 60 Jahren in New York dauerhaft nach Berlin zurückkehrte. "Es war die richtige Entscheidung", betonte sie. Sie habe es nie bereut. Bei ihren Lesungen in Schulen und Buchläden habe sie große Anerkennung gefunden. "Man hat mich gehört und verstanden, was ich sagte."
Margot Friedländer wurde 1921 in Berlin geboren und im Frühjahr 1944 ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Ihre Mutter Auguste Bendheim und ihr Bruder Ralph kamen im Vernichtungslager Auschwitz ums Leben. Auch ihr Vater wurde in einem Vernichtungslager ermordet. 1943 gelang es ihr zunächst, in Berlin unterzutauchen. Ein Jahr und drei Monate lang hätten ihr völlig fremde Menschen geholfen, sagte sie. Auch die Erinnerung daran, trug zu ihrer Entscheidung bei, Jahrzehnte nach ihrer Emigration in die USA wieder nach Deutschland überzusiedeln.
Im Auswärtigen Amt vernetzten sich derweil europäische Organisationen, die sich mit Bildungsprogrammen gegen Antisemitismus engagieren. Außenminister Heiko Maas (SPD) kündigte bei der Auftaktveranstaltung laut Redemanuskript an, dass die Bundesregierung den Kampf gegen Judenhass zu einem Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr machen will. Das nun gestartete Europäische Netzwerk zur Bekämpfung von Antisemitismus könne dabei eine wichtige Stütze sein. Deutschland wird von Juli bis Dezember 2020 die EU-Ratspräsidentschaft innehaben.
Maas verwies auf eine Studie, wonach 40 Prozent der jungen Deutschen nach eigener Einschätzung kaum Kenntnis über den millionenfachen Massenmord an den europäischen Juden hätten.
Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, äußerte sich besorgt die zunehmende Judenfeindlichkeit. Dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte er, dass der Anstieg solcher Straftaten derart hoch ausfiel, halte er für "äußerst alarmierend". Der Statistik politisch motivierter Kriminalität zufolge gab es 2018 bei antisemitischen Straftaten eine Steigerung um fast 20 Prozent auf 1.799 Delikte (2017: 1.504), davon fast 70 Gewalttaten. Das ist der Statistik zufolge der höchste Stand seit 2006. Klein forderte: "Wir müssen nun alle unsere politischen und zivilgesellschaftlichen Kräfte mobilisieren, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken."
Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) erklärte derweil, sie habe sich an die Landesjustizminister gewandt, damit eine einheitliche Definition von Antisemitismus Teil der Ausbildung von Richtern werde.