Wenn die Kirche verkehrt herum steht

Dorfkirche Rädel
© Anett Kirchner
Die Dorfkirche in Rädel steht "verkehrt herum", sie ist nicht wie üblich gen Osten ausgerichtet. Sie stammt in ihren Grundzügen aus dem Jahr 1739.
Wenn die Kirche verkehrt herum steht
Kirchen und ihre Ausrichtung nach Osten
Die Dorfkirche in dem kleinen Ort Rädel in Brandenburg steht "verkehrt herum". Wie wichtig ist es heute noch, dass eine Kirche nach Osten ausgerichtet ist?

"… der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute…", steht in einem Gleichnis vom Hausbau in der Bibel (Matthäus 7,24). Und dort heißt es weiter: der sein Haus auf Sand baue, gleiche einem törichten Mann. Das haben sich die Christen der evangelischen Kirchengemeinde Rädel in Brandenburg offensichtlich zu Herzen genommen. Der Untergrund, auf dem ihre Dorfkirche steht, ist an manchen Stellen sumpfig. Deshalb wurde ihre Kirche gewissermaßen verkehrt herum errichtet. Der Turm ist nicht wie traditionell üblich an der Westseite, sondern im Osten, wo in vielen Kirchen der Altar steht. Wie wichtig nehmen es Christen heute noch, dass ihre Kirche nach Osten ausgerichtet ist?

Diese sogenannte Ostung hat mit der Gebetsrichtung nach Osten, hin zur aufgehenden Sonne zu tun und mit dem Sinn für eine Orientierung im Raum. In dem Wort "Orientierung" spiegelt sich die alte christliche Tradition des Gebets ad orientem - zum Aufgang, nach Osten - wider. Das schreibt Professor Martin Wallraff von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München. In einem Aufsatz in der Zeitschrift für Kirchengeschichte (111. Band 2000/ Heft 2) befasste er sich mit den Ursprüngen der christlichen Gebetsostung.

"Im Gebet steht der Mensch vor Gott. Dieses Stehen vor Gott ist kein zufälliges; es ist geordnet in Zeit und Raum", schreibt Martin Wallraff. Dass diese Ordnung nicht zufällig gewesen sei, zeige sich daran, dass sie den Raum der Welt insgesamt konstituierte, ihm Orientierung gab: Landkarten seien bis ins Mittelalter geostet gewesen. Und auch zahllose Kirchenbauten – vor allem in der Antike und im Mittelalter - habe man nach Osten ausgerichtet; also orientiert.

"Die Kirche und der Glaube leben von solchen Symbolen, die Gläubige individuell deuten können", sagt Almuth Wisch. Diese Deutung müsse aber in einem gewissen Rahmen bleiben. Sie ist die Pfarrerin im Pfarrbereich Lehnin, zu dem auch die Kirchengemeinde Rädel gehört. Zwar sei ihr vor vier Jahren, als sie zum ersten Mal nach Rädel kam, schon aufgefallen, dass die Kirche "verkehrt herum" stehe. Dann habe sie aber einen Blick hinein in die Kirche geworfen und sei von dem hellen, freundlichen Innenraum so begeistert gewesen, dass ihr das Äußere unwichtig erschien.

Kircheninnenraum mit Altar und Kanzel.

Hinzu komme, dass die kleine Kirchengemeinde mit nur etwa 125 Gemeindegliedern eine sehr aktive Gemeinde und in gewisser Weise stolz auf ihre "besondere" Kirche sei. Die Beziehung zu diesen Menschen und das Wort, das sie verkündige, seien ihr wichtiger. "Ich finde es schöner, dass etwas lebt, als dass die Hülle einer Symbolik entspricht", fährt Almuth Wisch fort. Und dass die Dorfkirche hier nicht geostet sei, habe letztlich ganz pragmatische Gründe.

Es muss einen Vorgängerbau der heutigen Kirche in Rädel gegeben haben, weiß Ortschronistin Marianne Hadan. Das gehe aus verschiedenen historischen Quellen hervor, etwa dem sogenannten Landbuch Kaiser Karls IV. von 1375. Dort sei ein Pfarrbereich erwähnt worden. Niemand wisse jedoch genau, wie die mittelalterliche Kirche einst aussah. Darüber existierten keine Quellen. Erhalten geblieben sei immerhin eine Glocke aus dem 14. Jahrhundert.

Pfarrerin Almuth Wisch, Ortschronistin Marianne Hadan und Architekt Chris Rappaport (v. l. n. r.).

Laut einer Legende, die man sich hier erzählt, sei die alte Kirche nach Osten ausgerichtet gewesen, der Turm stand auf der anderen Seite. "Weil es westlich der Kirche früher einen See gab, der später verlandete, ist dort ein sumpfiger Untergrund entstanden", erzählt Marianne Hadan. Deshalb werde vermutet, dass der Turm abgesackt sei. "Das würde auch erklären, warum er später auf die andere Seite gebaut wurde." Die heutige Kirche stammt in ihren Grundzügen aus dem Jahr 1739. Über dem Eingang an der Ostseite sei zuerst ein Dachturm aus Holz errichtet worden, der, weil er einsturzgefährdet war, im Zuge einer Kirchenerweiterung 1912 durch einen massiven Turm ersetzt wurde.

"Für mich ist es auf Grund der Topografie nachvollziehbar, dass der Turm früher auf der anderen Seite stand", sagt Architekt Chris Rappaport. Seinerzeit habe man in der Regel ohne Fundamente gebaut, dann kam es zu Setzungen. Mit heutigen technischen Möglichkeiten sei das kein Problem mehr. Ein solcher Turm würde mit Pfahlgründung gebaut.

 

Chris Rappaport betreut die derzeitigen Baumaßnahmen am Dach des Turmes in Rädel. Im Moment könne er an dem Bauwerk keine Setzungen feststellen. Seit 20 Jahren ist er an Kirchensanierungen beteiligt und stellt dabei fest: die meisten Gotteshäuser sind nach Osten ausgerichtet.

Das Dach des Turmes wird derzeit erneuert.

Doch die Orientierung des Gebets nach Osten war den Christen wichtig, lange bevor es monumentale Kirchbauten gab, schreibt der Kirchenhistoriker Martin Wallraff. "Bereits die Märtyrer richteten sich im Gebet nach Osten, während die Flammen um sie hochschlugen." In seinem Aufsatz geht er den Ursprüngen des Brauches nach und findet Belege vor allem ab dem dritten Jahrhundert und danach. Es liege aber nahe zu vermuten, dass die Wurzeln weiter zurückreichten.

Die Erklärung, die aus moderner Sicht als natürlich erscheine, dass man nach Osten bete, weil dort die Sonne aufgehe, lasse sich nicht direkt nachweisen.

Was das Interesse der Kirchengemeinden heute betrifft, so ist sein Eindruck, dass sich der Brauch nicht verliere. Im Gegenteil. "Ich glaube, dass es zum Beispiel in den 1970er Jahren viel weniger Interesse für solche Fragen gab", sagt Martin Wallraff. Er sei schon einige Male von Leuten gefragt worden, die bei zumeist historischen Kirchen wissen wollten, ob der Bau zum Sonnenaufgang an einem bestimmten Tag ausgerichtet sei. Und er erinnere sich an einen Pfarrer des Baseler Münsters (Schweiz), der einen regelrechten "Kult" um den Sonnenaufgang am Tag der Sommersonnenwende entfachte. Nach seiner Theorie sei die Kirche dort so gebaut, dass die Strahlen der aufgehenden Sonne genau an diesem Tag in Apsis und Krypta einfielen.