Zum Beginn der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über die Hartz-IV-Sanktionen haben sich Sozialverbände für eine Abschaffung der Leistungskürzungen ausgesprochen. Eine Kürzung des Existenzminimums widerspreche dem Grundgesetz, erklärte der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband am Dienstag. Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, sagte, die Regelsätze seien jetzt schon so niedrig, dass es schnell existenzbedrohend werde, wenn sie gesenkt würden. Der Sozialwissenschafter und Theologe Gerhard Wegner plädierte dafür, die Sanktionen durch positive Anreize zu ersetzen.
Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, Ulrich Schneider, sagte der "Augsburger Allgemeinen" (Dienstag): "Es kann nach Artikel 1 unseres Grundgesetzes nicht sein, Menschen durch eine Kürzung einer staatlichen Leistung in ein Leben unterhalb des Existenzminimums zu schicken." Es müsse Schluss sein mit einem negativen Menschenbild, wonach "die Menschen von Grund auf faul sind, dass man ihnen Beine machen muss, dass sie, wenn man ihnen das Existenzminimum gibt, keine Lust mehr zum Arbeiten hätten und man sie deshalb sanktionieren muss", erklärte er.
Förderung und Unterstützung
Bentele betonte, in einem reichen Land wie Deutschland sollten alle ein menschenwürdiges Leben führen können. Vor allem junge Menschen könnten durch Sanktionen möglicherweise ganz den Kontakt zum Jobcenter verlieren, aus dem System fallen und auf Abwege kommen. Das mache keinen Sinn. Es müsse andere Wege der Förderung und Unterstützung geben, sagte sie im SWR.
Das Deutsche Kinderhilfswerk forderte ein Ende der Hartz-IV-Sanktionen gegen Familien mit minderjährigen Kindern. Von den Kürzungen der Bezüge ihrer Eltern seien Monat für Monat Zehntausende Kinder und Jugendliche betroffen, besonders dann, wenn beispielsweise bei einer Kürzung der Kosten für die Unterkunft Wohnungslosigkeit drohe, erklärte die Organisation am Dienstag in Berlin. "Das grenzt an Sippenhaft", sagte Bundesgeschäftsführer Holger Hofmann.
Auch der Deutsche Städtetag forderte ein Ende der härteren Sanktionen für junge Hartz-IV-Empfänger. "Der Grundsatz des Förderns und Forderns ist durchaus sinnvoll", sagte Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstag). "Die aktuell besonders harten Sonderregeln für Menschen unter 25 Jahren halten die Städte allerdings für überflüssig." Solche Sanktionen erhöhten für Menschen dieser Altersgruppe die Gefahr, dass sie in Obdachlosigkeit gerieten und ihren Krankenversicherungsschutz verlören.
Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), sprach sich für mehr Möglichkeiten für Hartz-IV-Bezieher zum Hinzuverdienst sowie finanzielle Anreize etwa für erfolgreiche Bewerbungen aus. "Man muss die Logik umkehren: Du wirst belohnt, wenn Du es schaffst, und nicht: Du wirst bestraft, wenn Du es nicht schaffst", erklärte er im Radiosender HR-Info. "Das Misstrauen muss raus dem System." Dass jährlich bis zu 900.000 Hartz-IV-Bezieher mit Sanktionen belegt würden, zeige, dass es in dem System an Vertrauen mangele.
Das Bundesverfassungsgericht überprüft ab Dienstag die Leistungskürzungen für Hartz-IV-Bezieher. Dabei geht es um die Frage, ob diese Sanktionen mit dem vom Staat zu gewährenden menschenwürdigen Existenzminimum vereinbar sind. Ein Urteil wird in einigen Wochen erwartet (AZ: 1 BvL 7/16).
Nach den rechtlichen Bestimmungen im Zweiten Band des Sozialgesetzbuchs (SGB II) müssen die rund vier Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher jede zumutbare Arbeit annehmen oder andere Eingliederungsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt nutzen, sonst drohen Kürzungen der Regelleistung. Bei wiederholten Pflichtverstößen darf das Jobcenter das Arbeitslosengeld sogar komplett streichen.