Religion habe beachtliche Vorteile: "Neben emotionaler Beruhigung legen sich Ängste, das Selbstwertgefühl steigt, neue Bindungen werden geknüpft, das Gemeinschaftsgefühl festigt sich, eine gemeinsame Moral bildet sich heraus, und es entsteht Freude am Leben", sagte Cyrulnik. Religionen beinhalteten zwei zentrale Resilienzfaktoren: "Aus individueller Sicht liefert der Glaube Sinndeutungen auch im Leiden." Zum Zweiten steche die soziale Unterstützung durch die religiöse Gemeinschaft ins Auge, die zahlreiche stabilisierende Effekte nach sich ziehe.
Gemeinsame Erzählungen und der Glaube an die gleiche unsichtbare Welt erzeugten ein Gefühl der Vertrautheit, eine sicherheitsstiftende, stärkende Zugehörigkeit - Lieder, Gebete, Kultobjekte und aufeinander abgestimmte Verhaltensmuster unterstützten dies und könnten "Gefühle seelischer Erhebung" hervorrufen.
Das Interview in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift führte Michael Utsch, Referent an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Boris Cyrulnik, Jahrgang 1937, ist Neurologe, Psychiater und Ethnologe. Sein Buch "Glauben. Psychologie und Hirnforschung entschlüsseln, wie Spiritualität uns stärkt" ist im Oktober im Beltz-Verlag erschienen.