EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union neue Weichenstellungen in der Flüchtlingspolitik, der Außenpolitik und in den Beziehungen zu Afrika eingeleitet. Juncker verlangte am Mittwoch vor dem Europaparlament in Straßburg außerdem eine Einigung auf den nächsten mehrjährigen EU-Haushalt noch vor den Europawahlen im kommenden Mai. Der Luxemburger beklagte in der Grundsatzrede außerdem eine Verrohung der politischen Debatte.
In der Migrations- und Flüchtlingspolitik, die Junckers Amtszeit bis heute prägt, legte er ein weiteres Maßnahmenbündel vor. Juncker will die aus dem EU-Haushalt finanzierte Grenz- und Küstenwache Frontex bis 2020 auf 10.000 Personen erhöhen. Die Außengrenzen "müssen effizienter geschützt werden", sagte er. Vorgesehen ist auch eine Mandatserweiterung. Die Grenzschützer sollen unter anderem Identitätskontrollen vornehmen. Geplant ist auch, dass sie über Einreisegenehmigungen entscheiden. Sie sollten dabei "unter Aufsicht und Kontrolle" des jeweiligen Mitgliedstaats bleiben, versicherte die Kommission. Ferner ist eigene Ausrüstung wie Schiffe, Flugzeuge und Fahrzeuge vorgesehen.
Mehr legale Wege nach Europa umsetzen
Juncker ermahnte die EU-Staaten zu mehr Solidarität in der Flüchtlingspolitik. "Wir können nicht bei der Ankunft jedes neuen Schiffes weiter über Ad-hoc-Lösungen für die Menschen an Bord streiten." Weitere Gesetzespläne sehen schnellere Abschiebungen vor. Juncker verlangte im Gegenzug auch, bereits bestehende Vorschläge für mehr legale Wege nach Europa umzusetzen. "Wir brauchen qualifizierte Migranten."
Zu Afrika, Herkunftsort von Flüchtlingen und Migranten, will Juncker das Verhältnis vertiefen. Man solle aufhören, den Nachbarkontinent "nur mit den Augen eines Gebers von Entwicklungshilfe zu betrachten". Er schlug vor, die zahlreichen Handelsabkommen zwischen Afrika und der EU zu einem einzigen Freihandelsabkommen zu verschmelzen. Zahlreiche einzelne Initiativen der Kommission für Afrikas stehen wie andere politische Pläne auch in direktem Zusammenhang mit dem derzeit debattierten mehrjährigen EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027.
Bei Menschenrechten müsse künftig das Mehrheitsprinzip gelten
In der Außenpolitik will Juncker den Grundsatz, dass Beschlüsse nur mit Zustimmung aller EU-Staaten getroffen werden können, überwinden. In bestimmten Bereichen wie dem der Menschenrechte müsse künftig das Mehrheitsprinzip gelten. Juncker äußerte sich in der auf Französisch, Englisch und Deutsch vorgetragenen Rede auch zu weiteren Themen wie dem Brexit, der Sozialpolitik, der Zeitumstellung - und zur politischen Kultur. Dabei beklagte der 63-jährige Konservative eine Verrohung. Immer öfter komme es zum polemisch-fruchtlosen Schlagabtausch. Auch die Medien würden immer wieder zur Zielscheibe.
Lüder Gerken vom Centrum für Europäische Politik in Freiburg lobte die Rede. "Juncker greift die Sorgen der Bürger in einer unsicheren Welt auf. Im Gegensatz zum regulatorischen Klein-Klein der Vergangenheit benennt er große außen- und innenpolitische Herausforderungen", urteilte Gerken. Die Nichtregierungsorganisation ONE begrüßte zwar die geplante Partnerschaft mit Afrika, machte aber geltend, dass dafür im von der Kommission vorgelegten Haushaltsentwurf für 2021 bis 2027 nicht genug Geld eingeplant sei.
EKD-Kritik: Nur kleinster gemeinsamer Nenner
Katrin Hatzinger von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) kritisierte, dass sich die Vorschläge zur Flüchtlingspolitik "auf den kleinsten gemeinsamen Nenner" wie schnellere Rückführungen und den Ausbau von Frontex konzentrierten. "Die Maßnahmen, um die legale Migration in die EU zu befördern, wirken daneben halbherzig und wenig ambitioniert", erklärte die Leiterin des Brüsseler EKD-Büros. Caritas Europa vermisste in der Rede jeglichen Verweis auf die UN-Nachhaltigkeitsziele, die das Handeln der EU im Innern und Äußeren leiten sollten.
Die Linken-Politikerin Gabi Zimmer warf Juncker vor, ein "giftiges Vermächtnis der Ungleichheit" zu hinterlassen. Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers und dem Ausbruch der Finanzrkise sei die EU weiterhin nicht besser aufgestellt: "Können die Menschen in der EU das Gefühl von sozialer Sicherheit, von Solidarität, von einer echten Gemeinschaft haben? Ich sage klar und deutlich: Nein", erklärte die Fraktionschefin im Europaparlament.