Zu der Gratisveranstaltung unter dem Motto "Wir sind mehr" in der Innenstadt hatten mehrere Bands eingeladen, darunter "Die Toten Hosen", "Feine Sahne Fischfilet", die Chemnitzer Band "Kraftklub" und der Rapper "Marteria". Das Konzert auf dem Johannisplatz startete am späten Nachmittag mit einer Schweigeminute. Auch angrenzende Straßen waren mit Besuchern gefüllt. Auf Plakaten standen Slogans wie "Menschenrechte statt rechte Menschen" und "Wir alle wollen leben ohne Angst und Hass".
Hintergrund sind fremdenfeindliche Ausschreitungen und Demonstrationen nach dem Tod eines 35-jährigen am Rande des Stadtfestes vor mehr als einer Woche. Tatverdächtig sind zwei Asylbewerber. Auch am Wochenende war Chemnitz nicht zur Ruhe gekommen. Erneut gingen Tausende Demonstranten verschiedener politischer Lager auf die Straße. Wegen der vielen Konzertbesucher untersagte die Versammlungsbehörde weitere Kundgebungen und Spontanversammlungen in der Innenstadt am Montag, etwa des thüringischen "Pegida"-Ablegers "Thügida".
Spenden für Familie des Getöteten und sächsische Anti-Rassismus-Initiativen
Die Veranstalter sprachen vor Beginn des Konzertes nur von voraussichtlich mehr als 20.000 Besuchern. Während Polizei und Stadtverwaltung die Anzahl der Veranstaltungsbesucher am Montag auf dem Platz vor der Johanniskirche und in den angrenzenden Straßen mit insgesamt rund 65.000 angaben, sprach die studentische Forschungsgruppe Durchgezählt von bis zu 30.000 Besuchern auf dem Johannisplatz. Beim Konzert selbst wurden Spenden für die Familie des Getöteten sowie für sächsische Antirassismus-Initiativen gesammelt.
Vereinzelte Kritik aus der Union und der FDP gab es gegen eine Unterstützung des Konzertes durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er hatte einen entsprechenden Veranstaltungshinweis auf Facebook geteilt. Die Kritik entzündete sich an der Teilnahme der Band "Feine Sahne Fischfilet", die 2011 im Verfassungsschutzbericht von Mecklenburg-Vorpommern als linksextrem aufgeführt worden war.
Einsetzen für eine solidarische Gesellschaft
Der Geschäftsführer der Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft, Sören Uhle, sagte auf einer Pressekonferenz vor Beginn des Konzertes, es sei ausreichend Sicherheitspersonal vorhanden, um ein sicheres Konzert zu gewährleisten. Die Kosten für die Veranstaltung würden vor allem durch die Künstler und Unterstützer gedeckt, Steuergelder kämen nicht zum Einsatz.
Campino, Leadsänger der "Toten Hosen", erklärte, die Musiker wollten jenen Menschen in Chemnitz Mut machen, die sich für eine solidarische Gesellschaft einsetzen. Es gehe nicht um einen "Kampf links gegen rechts", sondern darum, sich den Ausschreitungen eines "Rechtsaußenmobs" entgegenzustellen, bevor dieses Verhalten zur Lawine werde.
Felix Brummer von "Kraftklub" erklärte, es sei wichtig, dass man sich in solchen Zeiten "nicht allein fühlt". Seine Band hatte den Angaben zufolge die Idee für das Konzert "Wir sind mehr" entwickelt. "Monchi", Leadsänger von "Feine Sahne Fischfilet", sagte, es sei selbstverständlich, sich mit den Menschen in Chemnitz zu solidarisieren. Die fremdenfeindlichen Ausschreitungen hätten aber auch in anderen Bundesländern passieren können. Der deutsche Rapper "Marteria" sagte, mit seinem Auftritt wolle er sich mit den Menschen solidarisieren, die für Vielfalt einstehen.
In einem schriftlichen Statement warfen die teilnehmenden Künstler den rechten Demonstranten in Chemnitz vor, die Tötung des Deutschen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren: "Es geht ihnen nicht darum zu trauern, sondern um ihrem Hass freien Lauf zu lassen." Dem "rassistischen Mob" dürfe aber nicht unwidersprochen die Straße überlassen werden. "All den Menschen, die von den Neonazis angegriffen wurden, wollen wir zeigen, dass sie nicht alleine sind", heißt es in dem Aufruf zum Konzert.
Deutscher Kulturrat spricht von Erfolg
Laut Bundespolizei verlief auch die Abreise der auswärtigen Konzertbesucher vom Hauptbahnhof Chemnitz störungsfrei. Rund 80 Menschen mussten während der Veranstaltung wegen Kreislaufproblemen und Schnittverletzungen medizinisch versorgt werden, elf von ihnen kamen ins Krankenhaus, wie die Stadtverwaltung mitteilte.
Der Deutsche Kulturrat bezeichnete das Konzert als vollen Erfolg. Geschäftsführer Olaf Zimmermann sprach am Dienstag von einem "deutlichen, unübersehbaren Zeichen gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt".
Nach dem Konzert gegen Fremdenfeindlichkeit warnte der Fraktionsgeschäftsführer der SPD im Bundestag, Carsten Schneider, vor weiteren Problemen mit Rechtsextremismus in Ostdeutschland. "Die Situation in Ostdeutschland ist fragil", sagte er am Montagabend im Fernsehsender Phoenix. Er merke eine starke Ablehnung demokratischer Prozesse. "Das ist ein Pulverfass", warnte der SPD-Fraktionsgeschäftsführer. Alle diejenigen, die in Chemnitz mit rechten Gruppierungen demonstrierten, müssten sich für die Folgen mit in Haftung nehmen lassen. "Wer mit Neonazis marschiert, der hat in der Mitte der Gesellschaft nichts zu suchen, der macht sich gemein mit harten Rechtsextremisten", erklärte Schneider.
In Chemnitz soll es laut einem Bericht der "Freien Presse" (Online) auch an den kommenden drei Montagen wieder Konzerte geben. Einzelheiten stünden aber noch nicht fest. Bereits am Freitag lädt den Angaben zufolge das Theater Chemnitz zu einem Gratiskonzert unter dem Motto "Gemeinsam stärker - Kultur für Offenheit und Vielfalt" ein, wie es hieß.
Haftbefehl gegen dritten Tatverdächtigen
Gut eine Woche nach der tödlichen Messerattacke und den anschließenden Demonstrationen in Chemnitz kommt nun zudem Bewegung in die Ermittlungen. Wie Polizei und Staatsanwaltschaft der westsächsischen Stadt mitteilten, wird seit Dienstag auch der 22-jährige irakische Asylbewerber Farhad R. wegen Verdachts auf gemeinschaftlichen Totschlag per Haftbefehl gesucht. Er sei womöglich bewaffnet, warnten die Behörden. Auch zu Straftaten bei rechtsgerichteten Demonstrationen infolge der Tötung gab es neue Entwicklungen.
Wegen der Messerattacke sitzen bereits seit rund einer Woche zwei Tatverdächtige in Untersuchungshaft. Die Männer sollen am Rande des Chemnitzer Stadtfestes in der Nacht zum 26. August einen 35 Jahre alten Deutschen erstochen haben. Der Vorfall hat in Chemnitz in den vergangenen Tagen mehrere rechtsgerichtete Demonstrationen und Gegenveranstaltungen mit jeweils Tausenden Teilnehmern ausgelöst. Es kam wiederholt zu Ausschreitungen mit Verletzten sowie zu Angriffen auf Polizisten und Journalisten.
Seehofer: "Kommunikation zwischen Ausländerbehörde und Bamf hätte besser sein müssen"
Die Polizei hatte bereits kurz nach der Tat zwei Tatverdächtige festgenommen und mitgeteilt, es handle sich um einen 22-jährigen Iraker und einen 23-jährigen Syrer. Wie das Bundesinnenministerium am Dienstag mitteilte, hat der Iraker allerdings im Asylverfahren über seine Identität falsche Angaben gemacht. Eine Prüfung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) habe bereits im Juni ergeben, dass es sich bei allen vorgelegten Dokumenten des Mannes um "Totalfälschungen" handle. Das Bundesamt arbeite nun eng mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen, um die Identität des Verdächtigen aufzuklären, hieß es.
Laut Innenminister Horst Seehofer (CSU) hätte der Verdächtige zudem bereits 2016 nach Bulgarien abgeschoben werden können, wo er einen Asylantrag gestellt hatte. "Die Kommunikation zwischen der zuständigen Ausländerbehörde und dem Bamf hätte hier besser sein müssen", erklärte Seehofer. Zudem habe die Untersuchung der Dokumente des Mannes zu lange gedauert.
Strafverfahren wegen Hitlergruß
Wegen des Zeigens des Hitlergrußes bei einer Demonstration am 27. August in Reaktion auf den Tod des 35-Jährigen müssen sich voraussichtlich zwei Chemnitzer vor Gericht verantworten. Gegen die 32 und 34 Jahre alten Männer seien beim Amtsgericht Chemnitz Anträge auf Entscheidung im beschleunigten Strafverfahren gestellt worden, teilte die Generalstaatsanwaltschaft Dresden mit.
Die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) lud am Dienstag Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu einem Besuch nach Chemnitz ein. Es sei ein Termin im Oktober vorgeschlagen worden, bestätigte eine Sprecherin der Stadtverwaltung auf Nachfrage. Eine konkrete Vereinbarung gebe es aber noch nicht.