Die Terrormiliz habe ihren Angriff auf die Sindschar-Region, das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden im Nordirak, exakt vor vier Jahren begonnen, sagte der Vorsitzende des Zentralrats der Jesiden in Deutschland, Irfan Ortac, am Freitagabend in Gießen. 2.600 junge Frauen und Kinder seien weiterhin verschollen. Bei 6.800 vermissten Männern und alten Frauen befürchteten die Angehörigen aufgrund von Indizien und Zeugenaussagen, dass sie getötet worden seien.
Ortac dankte den Kommunen, den politischen Parteien und den christlichen Kirchen in Deutschland für ihre Solidarität und Hilfe in der schweren Zeit der Verfolgung der Jesiden durch den IS. Zwar sei die Terrormiliz inzwischen so gut wie besiegt, doch scheine es, als ob die religiöse Minderheit nicht wieder in ihre angestammten Siedlungsgebiete zurückkehren könne. "Der Völkermord geht weiter, die Jesiden werden im Versöhnungsprozess im Irak und beim Wiederaufbau nicht gefragt", sagte Ortac.
Auch der aus Gießen stammende Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) erklärte, der Weg zu einem "wahren Frieden im Irak" sei noch lang, denn die Wurzeln des islamischen Terrorismus seien noch nicht vollständig gekappt. Das Gedenken an die Opfer der schrecklichen Ereignisse sei nicht nur für alle Jesidinnen und Jesiden, sondern auch für Deutschland von "herausragender Bedeutung".
Die UN-Sonderbotschafterin Nadia Murad appellierte an die kurdische Regionalregierung, die Jesiden am Wiederaufbau der Sindschar-Region zu beteiligen. Derzeit fänden die Menschen dort weder Arbeit noch könnten sie sich ohne fremde Hilfe ernähren. Tausende lebten in Lagern. Eine normale Ausreise aus dem Irak sei für sie kaum möglich.
Die stellvertretende hessen-nasauische Kirchenpräsidentin Ulrike Scherf sprach bei der Gedenkfeier ihre Anteilnahme aus. "Als Evangelische Kirche in Hessen und Nassau stehen wir Ihnen in der scharfen Verurteilung der Gewalt wie im Schmerz um den Verlust zur Seite", sagte sie. "Ihr heutiges Gedenken ist aber auch für uns alle wichtig, weil wir erneut auf die drängende Frage hingewiesen werden: Wie gehen wir mit religiöser Vielfalt um? Und insbesondere mit religiösen Minderheiten?"
Unter den Gästen waren auch zwei der wichtigsten jesidischen Würdenträger, Baba Chavush und Pshimam Numan. Sie waren eigens aus dem Irak angereist und gestalteten zusammen mit den Mitgliedern des Zentralrats die religiöse Zeremonie.
Die Jesiden gehören zur Volksgruppe der Kurden. Sie sind jedoch keine Muslime, sondern bilden eine eigene Religionsgemeinschaft. Weltweit bekennen sich mindestens 800.000 Menschen zum jesidischen Glauben. Die Heimat der meisten Jesiden ist der Nordirak. Dort befindet sich nördlich der Millionenstadt Mossul auch das religiöse Heiligtum Lalisch. Nach dem Überfall des IS sind die meisten Jesiden aus ihrer Heimat geflohen. Die größte Auslandsgemeinde lebt nach Angaben des Zentralrats mit rund 200.000 Gläubigen in Deutschland.