Die Drehbühne am Schauspiel Stuttgart zeigt Räume, die jeweils für kurze Zeit Einblicke in unterschiedliche Szenen von Passionsgeschichten gewähren: Ein Wohnwagen, in der die Geburt Jesu gespielt wird, eine Bar, in der das Abendmahl stattfindet, und ein Set, das berühmte Bildmalereien wie eine Szene des Isenheimer Altars nachstellt.
Zu sehen sind alle Bilder zweimal: Mit einer Kamera werden sie auf Leinwände projiziert, der Zuschauer kann aber gleichzeitig das "Live-Making-of" auf der Bühne beobachten, die Herstellung von Bildern werden sichtbar gemacht. Herstellung und Wirkung der Bilder unterscheiden sich jedoch. Beispielsweise ist auf der Leinwand im Stile des italienischen Filmregisseurs Pier Paolo Pasolini der leidende Jesu am Kreuz zu sehen, der von der Darstellerin Julischka Eichel gespielt wird. Dass sie zuvor Wasser, Sand und Theaterblut ins Gesicht geschüttet bekommt, sieht man nur auf der Bühne.
Über die Hälfte der Texte, die an diesem Abend gesprochen werden, stammen aus dem Matthäus-Evangelium. Bewusst wird die interlineare Wort-für-Wort-Übersetzung verwendet, was die bekannten Texte verfremdet. Sie werden überlagert von Texten von Goethes Faust bis zur amerikanischen Schriftstellerin Susan Sonntag.
In diesem Überfluss an Bildern, Musik und Texten scheint auch der Regisseur seine eigene Geschichte aufzuarbeiten. Voges stammt aus einem christlichen Elternhaus und stand als Jugendlicher mit einem großen Holzkreuz in Amsterdam auf dem Marktplatz, um zu missionieren. Heute stehe bei ihm nicht mehr der Glaube im Mittelpunkt, sondern die Zweifel, sagt er.
Diese Zweifel zeigen sich auch in der Figur Jesu. Der Schrei Jesu "Warum hast du mich verlassen" zieht sich durch verschiedene Szenen. Einige Szenen nehmen bewusst in Kauf, christliche Theaterbesucher vor den Kopf zu stoßen: ein Chakrentanz auf das Lied "It's time to put God away" von Bill Callahan, ein Jesus, der Judas leidenschaftlich küsst. Aus bloßer Religionskritik besteht dieses Stück allerdings nicht. Es gibt auch mehrere Szenen mit beeindruckender spiritueller Tiefe wie das Hohelied der Liebe oder die Bergpredigt.
Nach Ansicht von Voges ist die Kunst an sich auch ein Passionsweg. Pilatus wird in dem Stück zum Theaterkritiker, der die Arbeit Voges und dessen religiöse Sinnsuche kritisiert. Der Leidensweg Jesu wird mit dem Leidensweg eines Regisseurs verglichen, für den die Arbeit im Gegensatz zum Heilsgeschehen Jesu nie vollbracht ist.
Am Ende des Stückes fährt die Projektionsfolie herunter und schließt wie ein Vorhang die Bühne. "I want to believe" - steht auf ihr in großen Lettern. Der Applaus ist etwas verhalten, viele klatschen begeistert, bei mehreren bewegen sich die Hände nicht.
Für den Besucher Wilhelm Heitmann, der sich selbst als christlich bezeichnet, geht die Inszenierung des Markusevangeliums "einen kleinen Schritt zu weit." Wenn beispielsweise Seiten aus der Bibel herausgerissen und in den Saal geworfen werden, fordere das von den Theaterbesuchern ein hohes Maß an Toleranz.
Und Kay Voges? "Ich will nicht erzählen, wie mein Jesus aussieht, sondern Vorschläge in den Raum werfen", sagt er. Wer Jesus ist, soll jeder individuell entscheiden. "Der Zuschauer schneidet sich aus dem bewussten Überangebot aus Szene, Ikonographie und verschiedensten Blickwinkeln an diesem Abend quasi seinen eigenen Film."