Das aufsehenerregende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Abgabe tödlich wirkender Medikamente an Sterbewillige ist laut einem Gutachten verfassungsrechtlich nicht haltbar. Es gebe keine verfassungsrechtliche Schutzpflicht, Sterbewilligen für den Suizid notwendige Mittel zu verschaffen, heißt es in der am Montag veröffentlichten Expertise des früheren Richters am Bundesverfassungsgericht, Udo Di Fabio.
Die Entscheidung der Leipziger Richter, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in der Pflicht sahen, Anträge auf todbringende Mittel zu prüfen, greife in unzulässiger Weise in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers ein, heißt es darin. Di Fabio fordert den Gesetzgeber auf, Maßnahmen gegen den Vollzug des Urteils zu ergreifen. Das Bundesinstitut in Bonn hatte den Verfassungsrechtler mit dem Gutachten beauftragt.
Gröhe: Bundestag soll mit neuem Gesetz Klarheit schaffen
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), der die Aufsicht über das Bundesinstitut hat, forderte den Bundestag auf, mit einem neuen Gesetz Klarheit bei der Hilfe zur Selbsttötung zu schaffen. "Eine staatliche Behörde darf niemals Helfershelfer einer Selbsttötung werden", sagte der geschäftsführende Minister der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Dienstag). Gröhe erinnerte daran, dass der Bundestag im Herbst 2015 die organisierte Sterbehilfe mit großer Mehrheit verboten und zugleich die Versorgung Sterbenskranker verbessert habe.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte im März 2017 entschieden, dass das Bundesinstitut in "extremen Notlagen" dazu verpflichtet sein kann, die Erlaubnis für den Erwerb tödlich wirkender Mittel wie beispielsweise Natrium-Pentobarbital zu erteilen. Zumindest müsse es die Anträge prüfen, entschieden die Richter in Leipzig. Das Institut vertrat dagegen die Auffassung, dass diese Erlaubnis nicht zu seinen Kompetenzen gehört. Im konkreten Fall ging es um den Sterbewunsch einer vom Hals abwärts gelähmten Frau.
Das Urteil sorgte für einen Aufschrei bei vielen Politikern. Erst im November 2015 hatte der Bundestag das Verbot organisierter Assistenz beim Suizid verabschiedet. Der Deutsche Ethikrat sah durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts dieses Gesetz konterkariert. Zudem wurden Zweifel geäußert, wie eine Behörde wie das Bonner Institut entscheiden soll, ob ein Sterbewunsch legitim ist oder nicht.
"Der Gesetzgeber ist berechtigt, die Mittel zu verweigern, wenn er in einer 'Assistenz' zur Selbsttötung zugleich Gefahren einer künftig entstehenden Routine zur Verabreichung tödlich wirkender Substanzen bis hin zur gesellschaftlichen Erwartung des Suizids erkennt", schreibt Di Fabio in seinem Gutachten. Zur Begründung der Leipziger Richter, die in ihrem Urteil vor allem auf das Persönlichkeitsrecht abstellten, schreibt der Jurist, die freie individuelle Entscheidung habe ein außergewöhnlich hohes Gewicht. Selbstbestimmung führe aber nicht zu einer Pflicht zur Beteiligung des Staates an einer höchstpersönlichen Entscheidung.
Di Fabio sieht in dem Urteil zudem einen Verstoß gegen die Gewaltenteilung. Mit seiner Gesetzesinterpretation setze das Bundesverwaltungsgericht an die Stelle des Willens des Gesetzgebers seinen eigenen rechtspolitischen Willen, heißt es in der Zusammenfassung des knapp 120-seitigen Gutachtens. Dies sei verfassungsrechtlich unzulässig.
Das Bundesinstitut prüft das Gutachten nun. Di Fabio skizziert darin mehrere Szenarien, wie die Behörde damit umgehen kann. Wegen verfassungsrechtlicher Bedenken könne das Institut die Erlaubnis zum Erwerb der Mittel weiter verweigern. Sie riskiere damit aber eine Rechts- und Amtspflichtverletzung, schreibt er. Di Fabio plädiert für eine Klarstellung des Gesetzgebers. Bis dahin wäre ein Nichtanwendungserlass des zuständigen Bundesministers angezeigt, schreibt er. Die Bundesregierung könne auch beim Bundesverfassungsgericht per Normenkontrolle gegen die Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts klagen.
Nach dem Leipziger Urteil waren beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte weitere Anträge zum Erwerb todbringender Medikamente eingegangen. Wie ein Sprecher sagte, liegen derzeit 83 entsprechende Anträge vor.