Auch die Kirchen müssen Formen für den Umgang mit intersexuellen Menschen finden. Wo im Gottesdienst bislang Männer und Frauen abwechselnd sangen, sind kreative Lösungen gefragt. Der Darmstädter Theologe Gerhard Schreiber erklärt, warum das für die Kirche auch Chancen eröffnet.
Muss sich die christliche Theologie ändern, um intersexuellen Menschen gerecht zu werden?
Schreiber: Bislang ist die Einteilung in Mann und Frau Grundlage des theologischen Menschenbildes. Deshalb ist Intersexualität eine Herausforderung für die Kirchen. Diese müssen akzeptieren, dass Geschlecht Varianzen aufweisen kann. Der Umgang mit Intersexualität ist aber auch eine Chance für die Theologie, weil er die Möglichkeit eröffnet, Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften aufzugreifen und Intersexualität nicht als defizitäre Abweichung von einer Norm zu begreifen, sondern als Ausdruck der Vielfältigkeit der Schöpfung Gottes.
"Wollen sich die Kirchen an eine große Mehrheit wenden und Minderheiten dabei ignorieren?"
Was bedeutet das für das Kirchenleben?
Schreiber: Zunächst gilt es für die Kirchen wie auch für die Behörden eine angemessene Sprachregelung zu finden. Wie sollen intersexuelle Personen in Briefen oder Gesprächen angeredet werden? Auch im Gottesdienst spielt die Unterscheidung von Mann und Frau eine große Rolle. Wenn Psalmen gesungen werden, geschieht das oft im Wechsel von Frauen und Männern. Da stellt sich die Frage: Können nicht einfach Personen mit tiefen und hohen Stimmen im Wechsel singen? Derartige Fragen berühren eine grundsätzliche Weichenstellung: Wollen sich die Kirchen an eine große Mehrheit wenden und Minderheiten dabei ignorieren? Oder wollen sich die Kirchen an alle Menschen wenden? Meiner Ansicht nach ist Kirche von ihrem Wesen her inklusiv. Deshalb hat sie dafür Sorge zu tragen, dass alle Menschen am Leben der Kirche teilnehmen können und niemand aufgrund seiner geschlechtlichen Selbstverortung ausgeschlossen wird.
Welche Impulse können Kirchen für den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit intersexuellen Menschen geben?
Schreiber: Aus theologischer Sicht ist das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung in der Menschenwürde begründet. Daraus erwächst die Aufgabe, eine Gesellschaft zu schaffen, die frei von Diskriminierung ist. Hier kann die Kirche aus ihrem christlichen Menschenbild Impulse geben. Am Ende ist es doch so: Wenn intersexuelle Menschen ihr Geschlecht auch vor Behörden als "inter" oder "divers" bekennen dürfen, wird niemandem etwas genommen.