Es war der Höhepunkt für die deutschen Protestanten im Jahr 2008: Vor 2.000 Besuchern und mit viel Polit- und Kirchenprominenz eröffneten am 21. September die evangelischen Kirchen in Lutherstadt Wittenberg feierlich die Lutherdekade zum 500. Reformationsjubiläum im Jahr 2017. In den kommenden zehn Jahren sollten die Reformation und ihre weltweiten Auswirkungen in das Bewusstsein breiter Gesellschaftsschichten hineingetragen und verankert werden.
Krönender Abschluss der Dekade sollte das Jubiläumsjahr 2017 sein, mit Tausenden Veranstaltungen bundesweit, zig großen und kleinen Ausstellungen, mit einem Touristenboom aus der ganzen Welt und als Höhepunkt dem Deutschen Evangelischen Kirchentag mit Hunderttausenden Teilnehmern in Berlin und Wittenberg.
Groß war die Hoffnung
Gefeiert werden sollte damit ein weltbewegendes Ereignis: Vor 500 Jahren, am 31. Oktober 1517, soll der Reformator Martin Luther (1483-1546) seine legendären Thesen zur Erneuerung der Kirche an die Wittenberger Schlosskirche genagelt haben. Es war der Startschuss zu massiven kirchlichen und auch politischen Umwälzungen in der ganzen Welt.
Groß war die Hoffnung, dass sogar der Papst im Jubiläumsjahr nach Deutschland kommt, um einen Aussöhnungsprozess zwischen Katholiken und Protestanten zu krönen. Er kam zur Eröffnung des Festjahres am 31. Oktober 2016 zwar ins schwedische Lund, nicht aber nach Deutschland. Ende vergangenen Jahres freute sich der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, dennoch über die große öffentliche Aufmerksamkeit für das Jubiläum: Der Reformations-Truck werbe in 19 Ländern mit "sehr guter Resonanz" für das Ereignis, die eigens neu übersetzte Lutherbibel sei ein Verkaufsschlager und bereits restlos ausverkauft. Das sei ein Zeichen dafür, wie aktuell die christliche Botschaft sei und wie sehr die Menschen deren Orientierung aufsaugten.
Bibelarbeit vor leeren Stühlen
In großer Erwartung blickte die evangelische Kirche deshalb auf die Feierlichkeiten 2017. Höhepunkt sollte der große Open-Air-Gottesdienst am 28. Mai auf den Elbwiesen bei Wittenberg sein als gemeinsamer Abschluss des Kirchentags in Berlin und der sechs mitteldeutschen "Kirchentage auf dem Weg". Gerechnet wurde ursprünglich mit rund 200.000 Besuchern.
Nun, im Sommer, macht sich Ernüchterung breit. Die Besucherzahlen der Kirchentage blieben vor allem in Mitteldeutschland weit unter den Erwartungen, massenhafte Touristenströme nach Wittenberg, wo es neben den Originalschauplätzen im Reformationssommer auch eine von den Kirchen initiierte Weltausstellung zu besichtigen gibt, bleiben aus. Besonders deutlich zeigte sich die Besucherlücke beim "Kirchentag auf dem Weg" in Leipzig. Gerechnet wurde ursprünglich mit 50.000 Interessenten, tatsächlich kamen um die 15.000. Selbst eine Bibelarbeit mit Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) fand weitgehend vor leeren Stühlen statt.
Insgesamt 160 Sonderzüge setzte die Deutsche Bahn am 28. Mai zwischen Berlin und Wittenberg und Leipzig und Wittenberg ein, um die Hunderttausenden Kirchentagsbesucher zum gemeinsamen Abschlussgottesdienst auf die Elbwiesen zu bringen. Tatsächlich nutzten 60.000 Menschen das Bahn-Angebot, wie der zuständige Bahnsprecher Holger Auferkamp sagt. Viele Züge blieben leer, wie auch weite Teile des 40 Hektar großen Gottesdienst-Areals auf der Elbwiese. 120.000 Gottesdienstbesucher zählten die Veranstalter dann trotzdem. Wegen des schleppenden Vorverkaufs von Kirchentags- und Bahntickets waren in den Wochen zuvor die Besucherzahlen bereits nach unten korrigiert worden.
Auch von den drei nationalen Sonderausstellungen zum Jubiläum hat nur "Luther und die Deutschen" auf der Wartburg in Eisenach bislang über 120.500 Interessierte angezogen. "Luther! 95 Schätze - 95 Menschen" in Wittenberg meldete bislang rund 48.600 Besucher, "Der Luthereffekt" im Berliner Martin-Gropius-Bau" nur über 30.000.
Verliert die Kirche den Anschluss?
Zur Halbzeit des Reformationsjahres geht der langjährige Leipziger Thomaskirchen-Pfarrer Christian Wolff deshalb mit seiner Kirche hart ins Gericht. Der streitbare Theologe sieht die evangelische Kirche in einer "dramatischen Krise", die durch das Jubiläum "ungewollt sichtbar geworden ist". Die Kirche komme ihm vor wie ein großes Kaufhaus ohne Kunden.
Viele der Gemeinden vor Ort hätten ihre Mitarbeit an Jubiläum und Kirchentag verweigert, weil sie daran keinen Sinn sähen, auf der einen Seite seit Jahren "auszubluten" und dann einen Kirchentag feiern zu sollen, der wegen des Jubiläums fremdbestimmt wird, sagt Wolff. Nicht eine einzige Kirchentagsfahne sei in Leipzig zu sehen gewesen, kritisiert der Pfarrer, und wirft der evangelischen Kirche Profillosigkeit vor. Wenn sie so weiter mache, verliere sie den Anschluss an die nächste Generation.