Islamwissenschaftler und Gewaltforscher fordern als Konsequenz aus einer Studie über die dschihadistische Jugendszene in Deutschland, die Präventionsarbeit in den Schulen möglichst schnell auszubauen. "Wir brauchen viel mehr Kapazitäten, um Lehrer zu sensibilisieren", sagte Andreas Zick vom Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld am Montag bei der Vorstellung der Untersuchung in Osnabrück. Ein Ergebnis der Studie war, dass radikalisierte Jugendliche nur wenig über den Islam wissen und sich unreflektiert eine eigene Weltanschauung konstruieren.
In einem Forschungsnetzwerk des Bielefelder Instituts mit dem Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück haben Wissenschaftler nach eigenen Angaben erstmalig in Deutschland Whatsapp-Chatprotokolle einer salafistischen Jugendgruppe analysiert. Mitglieder der Gruppe hätten im Frühjahr 2016 einen Anschlag verübt. Das Forscherteam habe insgesamt 5.757 Botschaften aus den drei Monaten vor dem Anschlag ausgewertet.
Die Whatsapp-Gruppe habe sich als eigene terroristische Zelle ohne Anknüpfungspunkt an einen bekannten Islamprediger und ohne Verbindung zur Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gegründet, erläuterte Zick. Das sei ein Muster, das auch aus anderen Untersuchungen bekannt sei.
Besonders anfällig seien junge Menschen, die sich in einer kritischen Lebensphase befänden. Auslöser könnten etwa Gewalterfahrungen durch Eltern, Tod in der Familie oder Drogenkonsum sein. "Das dschihadistische Angebot liefert ihnen Sehnsuchtsorte und die Chance auf einen Neustart genau da, wo sie von der Gesellschaft nicht abgeholt werden", sagte der Gewaltforscher Zick.
Die Protokolle belegten, dass die Mitglieder der Gruppe in einem "überraschenden Ausmaß" religionsfern seien, sagte Michael Kiefer vom Institut für Islamische Theologie. Sie sprächen kein arabisch, hätten den Koran nicht gelesen, gehörten keiner Moscheegemeinde an und bastelten sich aus Internet-Bausteinen, die ihnen passten, eine Art "Lego-Islam" zurecht: "Je kruder und einfältiger die Theorien waren, desto erfolgreicher waren sie."
Die Chat-Gruppe habe sich deutlich vom Mainstream-Islam und auch von anderen Salafisten abgegrenzt, die nicht ihrem Bild entsprochen hätten. Mit zunehmender Dauer sei die Gruppe kleiner geworden und habe sich immer mehr von der Außenwelt isoliert. Eine solche Abschottung sei typisch für Radikalisierungsprozesse, sagte Kiefer. Lehrer in Schulen könnten dies erkennen und gegensteuern. "Schulen sind mit Abstand die wichtigsten Präventionsorte", sagte er. Moscheegemeinden spielten eher eine untergeordnete Rolle, weil die radikalisierten Jugendlichen dort kaum präsent seien.