Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs will ihre Arbeit über 2019 hinaus fortsetzen können. Die Vorsitzende des Gremiums, die Frankfurter Kindheitsforscherin Sabine Andresen, sagte am Mittwoch in Berlin, die Betroffenen wollten, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessert werde. Die Aufarbeitung könne dazu beitragen. Von der Politik verlangt das Gremium eine stärkere Unterstützung der Betroffenen und mehr Zeit und Geld für seine eigene Arbeit.
Die Kommission legte einen ersten Zwischenbericht vor. Danach haben sich seit Mai 2016 rund 1.000 Betroffene und andere Zeitzeugen für eine vertrauliche Anhörung gemeldet. Etwa 200 Anhörungen fanden statt, zusätzlich sind 170 schriftliche Berichte eingegangen. Bei rund 70 Prozent der Betroffenen fand der Missbrauch in der Familie oder im sozialen Nahfeld statt, gefolgt vom Missbrauch in Institutionen.
Für eine vertrauliche Anhörung meldeten sich deutlich mehr Frauen als Männer. Die Kommission legte ihren ersten Schwerpunkt auf Missbrauch in der Familie und im nahen sozialen Umfeld. Die Betroffenen haben den Berichten zufolge oft keine oder erst spät Hilfe erfahren. In den wenigsten Fällen hätten die Mütter ihnen geglaubt und sie vor weiterem Missbrauch geschützt. Hilfe von außerhalb der Familie kam ebenfalls selten, auch nicht durch die Schule oder das Jugendamt.
Ein bis zwei Kinder pro Schulklasse
Sexueller Missbrauch "erzeugt ein unglaublich großes Leid", sagte Andresen. Die Kommission macht in ihrem Bericht auch auf den Zusammenhang zwischen Missbrauch und Armut im Erwachsenenalter aufmerksam. Es bestehe kaum ein Bewusstsein darüber, in welchem Ausmaß das spätere Erwerbsleben beeinträchtigt werden könne. Betroffene müssten schnelle und passende Unterstützung erhalten.
Was die Gesellschaft bisher investiere, um Missbrauchsfolgen zu lindern und neuen Übergriffen vorzubeugen, "entspricht in keiner Weise dem endemischen Ausmaß dieser Gewalt", kritisierte Matthias Katsch vom Betroffenenrat beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Nach neueren Studien hätten etwa zehn Prozent der Bevölkerung sexuelle Gewalterfahrungen: "Das entspricht ein bis zwei Kindern in jeder Schulklasse", sagte Katsch. Sexueller Missbrauch sei "ein Grundrisiko von Kindheit und Jugend in Deutschland". Darauf müssten Politik und Gesellschaft endlich angemessen reagieren.
Die Kommission, deren Arbeit bisher 2019 auslaufen soll, kann bis dahin alle Betroffenen anhören, die sich bisher gemeldet haben. Weitere Anmeldungen könnten indes nicht entgegengenommen werden, sagte Andresen, es gebe aber eine Warteliste. Auch schriftlich können sich Betroffene weiter an das Gremium wenden. Die frühere Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann (SPD), die auch an Anhörungen beteiligt ist, sagte, es seien vor allem "die Starken", die zu den vertraulichen Gesprächen kommen. Dennoch sei sie "immer wieder neu erschüttert".
Sie kritisierte, dass die Zusagen auf Hilfen und Entschädigung für die Betroffenen nicht eingehalten würden und machte die Koalition in Berlin dafür verantwortlich, dass die Reform des Opferentschädigungsgesetzes immer noch aussteht. Solange Missbrauchsopfer auf diesem Weg keine Hilfe bekämen, müsse der Hilfefonds weiterlaufen, sagte Bergmann, die der Kommission angehört. Aus den Fonds von Bund und Ländern im Umfang von rund 60 Millionen Euro erhalten Antragsteller im Durchschnitt 8.000 Euro für Therapien und Hilfen im Alltag.
Die Aufarbeitungskommission untersucht sämtliche Formen von sexuellem Kindesmissbrauch in der Bundesrepublik und in der DDR, um Strukturen aufzudecken, die Missbrauch in der Vergangenheit begünstigt haben. Ihren ersten Schwerpunkt setzte sie auf dem sexuellen Missbrauch in der Familie. In diesem und im kommenden Jahr soll es um Kindesmissbrauch in der DDR und in den dortigen Kinder- und Jugendheimen gehen, sowie um die Missbrauchsfälle in den Kirchen und rituelle und organisierte Formen der sexuellen Gewalt gegen Kinder.