Ein solch radikal säkulares Denken sei "nicht klug". Religionen blieben auf absehbare Zeit Teil der Kultur "und damit müssen wir uns auseinandersetzen", sagte Neiman. Im 20. Jahrhundert sei die Philosophie strikt vom Glauben getrennt und die Religion aus der Philosophiegeschichte herausgenommen worden, kritisiert Neiman. Doch die Bibel müsse auch als philosophisches Werk gelesen werden, weil sie viele philosophische Fragen stelle - wie die, "warum die Schöpfung dermaßen unperfekt ist", sagt Neiman in der Magazin-Sonderausgabe "Die Bibel und die Philosophen".
Auch ethische Debatten seien in den alten Texten angelegt. So gebe es zwei sehr unterschiedliche Geschichten über Abraham, die das Verhältnis des Gläubigen zu Gott, das Verhältnis von Ethik und Religion und somit zwei Grundströmungen in jeder der monotheistischen Religionen beschrieben, führt die Philosophin aus. In der bekannteren Geschichte sei Abraham bereit, Gott ohne Widerspruch zu gehorchen und seinen eigenen Sohn zu töten. In der anderen Erzählung hingegen verhandele er mit Gott, der die Städte Sodom und Gomorrha zerstören will, und "gibt Gott geradezu eine Lektion in Ethik", sagte Neiman: Abraham weise darauf hin, dass auch gerechte Menschen in der Städten leben, die dann mitgetötet würden.
Auch in der Gegenwart findet die ehemalige Yale-Professorin gemeinsame Ansätze von Religion und Philosophie. Jede Religion habe zwei Hauptstränge, der eine "hat mit Sex zu tun", der andere sei an sozialer Gerechtigkeit interessiert, sagt Neiman. Papst Franziskus habe in den vergangenen Jahren "ganz klar gemacht, dass der Kern der Religion die Sozialethik ist". Und das "wäre in jeder Religion befreiend".