Die aktuelle Zeit sei bestimmt "durch tiefgehende Sorge von Menschen darum, zu kurz zu kommen, nicht genug für sich selbst zu haben", sagte die Leiterin des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Universität Zürich am Dienstag in Bielefeld. "Es ist für diese Menschen offenbar nicht mehr spürbar, dass sie einen Wert haben, dass sie anerkannt sind und bedeutsam."
Diese Sorge sei bei der US-Präsidentschaftswahl "in beängstigender Weise" deutlich geworden, sagte Tietz in einem Vortrag mit dem Titel "Von der Freiheit und Unfreiheit eines Christenmenschen" vor der Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen. "Wer formuliert: 'America first', bei dem scheint die Botschaft von der Zuwendung Gottes allein aus Gnade noch nicht angekommen zu sein", fügte die Theologin mit Blick auf den Wahlkampf-Slogan des künftigen US-Präsidenten Donald Trump hinzu.
Zwar könne die Liebe Gottes nicht den verständlichen Wunsch nach einer Arbeitsstelle oder gesellschaftlicher Anerkennung ersetzen oder die Sorge um schwindenden Wohlstand nehmen, räumte Tietz ein. "Aber sie bringt die Dinge doch wieder ins rechte Verhältnis, wenn zutreffend ist, dass hinter diesen verständlichen Ängsten eine tiefe existenzielle Kränkung, Verunsicherung und Identitätskrise dieser Menschen steht."
Wer wisse, "dass im Zentrum seiner Existenz für ihn gesorgt ist", werde "von einer derart krampfhaften Sorge um sein eigenes Wohlergehen frei", sagte die Professorin für Systematische Theologie. "Und er wird frei für die Anliegen und die Not der Mitmenschen, weil auch diesen Gottes Liebe gilt", und zwar unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunft.
Den Kirchen rät Tietz, an dieser Sorge der Menschen anzusetzen, ohne den moralischen Finger zu heben. Den Menschen müsse wieder deutlicher gezeigt werden, "welche Freiheit von der krampfhaften Sorge um sich selbst in der Zuwendung Gottes liegt".