"Viele Frauen haben Sternenkinder"

Weinende Frau mit Ultraschallfoto in den Händen nach einer Fehlgeburt.
© Lightstock/Prixel Creative
Wie kann man Familien mit Sternenkindern besser begleiten und welche Rechte haben Angehörige im Falle einer Tot- oder Fehlgeburt?
"Viele Frauen haben Sternenkinder"
Interview mit Anna Rechel, Hebamme und Trauerbegleiterin
Hebamme Anna Rechel hat sich zur Trauer- und Sterbebegleiterin ausbilden lassen. Familien mit Sternenkindern ihrer Meinung müssten besser begleitet und über ihre Rechte im Falle einer Tot- oder Fehlgeburt aufgeklärt werden, sagt sie. Dass es so viele stillen Geburten gebe, werde in unserer Gesellschaft tabuisiert und die Eltern mit ihrer Trauer oft alleine gelassen.
15.10.2019
evangelisch.de
Lisa Menzel

Sie haben eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin gemacht. Wie passt das zu Ihrer Tätigkeit als Hebamme?

Anna Rechel
Anna Rechel

Anna Rechel ist seit 12 Jahren freiberufliche Hebamme und Inhaberin der Hebammenpraxis JUNO in Bensheim. Seit Abschluss ihrer Ausbildung zur Trauer- und Sterbebegleiterin ist sie für das Sternenkinderzentrum Odenwald e.V. tätig.

Anna Rechel: Das Gefühl, dass ich mich im Bereich der Trauer- und Sterbebegleitung weiterbilden muss, hatte ich schon in der Ausbildung, denn auch in der Tätigkeit als Hebamme habe ich immer wieder mit dem Thema Tod zu tun. Ich habe zum Beispiel in einer Klinik gearbeitet, in der  auch Spätabbrüche betreut werden. Das bedeutet, dass Kinder mit Fehlbildungen, mit einer lebensverkürzten Diagnose oder Kinder, die für gar nicht lebensfähig gehalten werden, auch noch nach der 12. Schwangerschaftswoche abgetrieben werden dürfen. Obwohl ich im Rahmen der Hebammen-Ausbildung schon eine Menge gelernt habe, habe ich gemerkt, dass das bei Weitem nicht reicht, um die Familien adäquat zu betreuen. Mein Wunsch und Ziel ist es, betroffene Eltern anders zu begleiten, als es momentan leider oft der Fall ist.

Erwartet ein Paar ein Baby, nehmen sie zu mir als Hebamme Kontakt auf und wir treffen uns in meiner Hebammenpraxis zum Kennenlernen. In einem Gespräch erfrage ich dann alles, was für mich und die Begleitung wichtig ist, dabei gehe ich auch auf vorrausgegangene Schwangerschaften ein. Jede Frau hat ihre eigene Geschichte und viele von ihnen haben Sternenkinder. Das ist aber etwas, was in unserer Gesellschaft oft tabuisiert wird. Meistens wird bei der normalen Vorsorgeuntersuchung durch den Frauenarzt die Diagnose gestellt, dass das Kind sich nicht weiter entwickelt hat oder das Herz des Kindes nicht mehr schlägt. Dann wird ein Termin im Krankenhaus gemacht und die Frauen kriegen bereits wenige Tage später eine Ausschabung – das wars!

Die Frauen werden nicht einmal darüber aufgeklärt, dass es auch die Möglichkeit gibt, zu warten, bis ihr Körper sich von alleine von diesem Kind verabschiedet. Auch das sie einen Anspruch auf Hebammenhilfe haben wissen die meisten Familien nicht. Es gibt Frauen und Paare, die gut mit dem Erlebten zurechtkommen. Es kann aber auch sein, dass sie durch dieses Erlebnis schwer traumatisiert sind und dieses Trauma dann mit in eine Folgeschwangerschaften nehmen. Sie haben dann Angst und sind sehr verunsichert. Ich dachte immer wieder, dass ich betroffene Frauen und Familien gerne mehr unterstützen würde. Mir reichte es nicht, zwei Bücher zum Thema zu lesen, sondern mir war klar, dass ich auch für mich selbst etwas tun muss. Ich muss in meiner Person so gefestigt sein und wissen wo ich stehe, dass ich die Arbeit mit Trauernden "aushalten" und ihnen auch eine Hilfe sein kann.

"Ich werde auch immer an meine eigene Geschichte erinnert und mit meiner Trauer konfrontiert."

Fühlen Sie sich mit der Trauerausbildung der Arbeit mit verwaisten Eltern gewachsen?

Rechel: Ja, auf jeden Fall! Diese Trauer- und Sterbebegleiter-Ausbildung ist nicht nur Theorie, sondern auch viel Persönlichkeitsarbeit. Es geht also darum, sich selbst zu reflektieren: Wo stehe ich? Wo sind meine Grenzen? Wenn ich mich mit "den Problemen" anderer befasse, muss ich auch die Möglichkeit haben, das wirklich als das Problem eines anderen zu sehen. Es geht nicht darum, nicht mitfühlend zu sein, sondern darum, nicht alles mit nach Hause zu nehmen - das frisst einen irgendwann auf.

Der Grund, warum ich diesen Schritt erst jetzt, 12 Jahre nach meinem Examen gemacht habe, ist meine eigene Familie. Ich habe mittlerweile vier Kinder zwischen eld und vier Jahren. Als Familienplanung und Schwangerschaft für mich persönlich noch Thema war, konnte ich mich nicht so intensiv mit "Sterben" und "Tod" beschäftigen. Mir wäre es sicherlich nicht gut gelungen, diese Themen nicht an mich heranzulassen und ohne Ängste meine Schwangerschaften zu genießen.

Gelingt Ihnen das immer, die Trauerarbeit mit Frauen, die ihr Kind verloren haben, nicht mit nach Hause zu nehmen?

Rechel: Nein, natürlich nicht. Ich denke, das ist auch normal, dass es Situationen und Schicksale gibt, die einem persönlich sehr nahe gehen. Ich selbst bin auch zweifache Sternenkindermama. Wenn ich Paare begleite, die eine ähnliche Geschichte haben, dann werde ich auch immer an meine eigene erinnert und mit meiner Trauer konfrontiert.

Ich stehe im ständigen Austausch zu den anderen Teilnehmerinnen der Trauer- und Sterbeausbildung. Das ist sehr wichtig für mich. Habe ich einmal das Gefühl, dass ich an meine Grenzen komme oder ich jemanden brauche, der mir hilft mich und meine Gefühle zu sortieren, sind wir füreinander da und begleiten uns gegenseitig. Es ist schön, dass wir uns in dieser Gruppe immer wieder gegenseitig unterstützen, uns aufbauen und zuhören.

Was durchleben Frauen und Männer, die ihr Kind verloren haben?

Rechel: Normalerweise gehe ich nicht mit den Frauen ins Krankenhaus, weil es für mich nicht machbar ist, zeitlich so flexibel zu sein. Ich habe aber mal eine Freundin bei ihrem Sternenkind begleitet und war auch mit ihr im Krankenhaus. Ich fand es sehr erschreckend, wie einige Mitarbeiter der Klinik mit ihr und ihrem Schicksal umgegangen sind. Wie wenig Fingerspitzengefühl oft da ist, wie wenig auf den Umgang mit den Eltern geachtet wird und wie kalt manche Menschen sind. Das liegt sicherlich auch dem hohen Arbeitspensum, das momentan in vielen Krankenhäusern herrscht. Dadurch hat das Personal oft gar nicht die Möglichkeit die Eltern in angemessener Art und Weise zu betreuen.

Leider ist es auch schon vorgekommen, dass Frauen, bei denen das  Baby in einer frühen Schwangerschaftswoche gestorben ist, gar nicht betreut werden, wenn sie auf die Geburt ihres toten Kindes warten. Sie liegen alleine im Zimmer und kriegen einen Toilettenstuhl hingestellt. Da kann es passieren, dass die Mutter ihr Baby dann auf diesem Stuhl alleine auf die Welt bringt. So etwas macht mich fassungslos! Und das zeigt mir auch, dass es wichtig ist, das Personal noch einmal darauf aufmerksam zu machen, zu schulen, aufzuklären und zu sensibilisieren.

"Jeder Mensch trauert anders"

Die Eltern wissen oft gar nicht, welche Rechte sie in dieser Situation haben. Mittlerweile ist es in Deutschland so, dass jedes Kind bestattet werden darf. Lange war das nicht der Fall, da wurden Kinder, die unter 500 Gramm gewogen haben und tot geboren wurden, einfach gar nicht bestattet. Ich sehe es als Pflicht, die Eltern über dieses Recht aufzuklären, damit sie selber entscheiden können, ob sie das wollen oder nicht.

Sternenkindereltern, gerade diese, welche ihr Baby in einer frühen Schwangerschaftswoche gehenlassen mussten, wird oft gar nicht zugestanden, richtig zu trauern. Sie hören dann Sätze wie: "Ihr könnt es doch einfach nochmal versuchen" oder "Das war doch noch gar kein richtiges Kind". Aber jeder Mensch geht anders mit so einer Situation um und jeder Mensch trauert anders und braucht eine andere Begleitung.

Wie reagieren Eltern auf den Verlust ihres Kindes während der Schwangerschaft?

Rechel: Also das ist ganz unterschiedlich und hängt sicherlich auch mit der Schwangerschaftswoche zusammen, in der das Kind gestorben ist. Es gibt Eltern, die sagen: "Wir sind traurig, aber es hat wohl nicht sein sollen, es ist in Ordnung." Bei manchen ist das auch eine Glaubenssache, und durch den Glauben können die Eltern das ganz gut verarbeiten. Sie sagen, dass es okay ist, und dass das Kind schon seinen Grund hatte, weshalb es nicht kommen wollte. Und es gibt Eltern, die brechen zusammen. Es gibt Betroffene, die in Depressionen fallen, manche Ehen gehen kaputt, weil die beiden einfach nicht miteinander umgehen können in der Trauer. Männern und Frauen trauern eben unterschiedlich. Manche Männer gestehen sich gar nicht ein, dass sie traurig sind. Obwohl sie genauso betroffen sind. Sie denken, dass sie stark sein müssen.

Wie können Sie die Eltern in der Trauer um ihr Kind begleiten und sie unterstützen?

Rechel: Das kommt darauf an, mit welchem Auftrag ich in die Situation reinkomme und zu welchem Zeitpunkt ich kontaktiert werde. Werde ich kontaktiert, wenn die Frau noch schwanger ist, aber schon die Diagnose hat, dass ihr Baby tot ist, dann kann ich mit ihr und ihrem Partner vorher Gespräche führen. Ich kann zuhören und ihnen Raum geben, zu spüren, welche Gefühle da gerade in ihnen hochkommen. Als Hebamme kann ich den Paaren fachlich zur Seite stehen. Ich kann zum Beispiel unterschiedliche Wege aufzeigen, wie das Kind auf die Welt kommen kann. In Deutschland ist es meist so, dass Frauen bei frühen Fehlgeburten ins Krankenhaus geschickt werden und eine Gebärmutterausschabung bekommen. In anderen Ländern ist das nicht so. In Holland ist es zum Beispiel nichts ungewöhnliches, dass betroffene Frauen die "kleinen Geburten", wie wir das auch nennen, zu Hause erleben und ihr Kind zu Hause bekommen. Das ist letztendlich eine Entscheidung der Frau. Manche wollen das auch nicht und das ist absolut in Ordnung.

"Was die Eltern in dem Zeitraum bis zur Bestattung nicht leben, werden sie nie wieder nachholen können"

Ich bin da, um den Frauen zu zeigen, welche Möglichkeiten sie haben. Nach der Geburt bin ich nach Bedarf verfügbar. Als Hebamme schaue ich, wie sich die Gebärmutter zurückbildet oder eventuelle Geburtsverletzungen verheilen. Vielleicht muss die Frau abstillen, dann helfe ich ihr dabei. Ich biete ihr natürlich auch immer wieder Gespräche an. Außerdem gebe ich Rückbildungsgymnastikkurse für Sternenkindermamas.

Wenn ich als Trauer- und Sterbebegleitung gerufen werde, dann liegt die Begleitung natürlich vor allem in dem Schwerpunkt der Trauerarbeit. Ich arbeite mit dem Verein Sternenkinderzentrum Odenwald zusammen, da gibt es zum Beispiel auch Trauergruppen für verwaiste Eltern. Meine Ausbilderin Helga Schmidtke arbeitet dort als Sterbe- und Trauerbegleitung und als Sternenkinderbestatterin. Sie ist darauf spezialisiert, Sternenkinderbestattungen zu organisieren, denn auch für Bestatter ist es nicht alltäglich, ein Kind zu bestatten. In der Aufgabe als Sterbe- und Trauerbegleitung geht es vor allem darum, die Eltern über ihre Möglichkeiten und Rechte aufzuklären. Da kann es zum Beispiel darum gehen, dass ein totgeborenes Kind nochmal nach Hause geholt werden kann, damit die Eltern sich dort in Ruhe verabschieden können.

Wir arbeiten auch mit einer Sternenkinderfotografin zusammen, die den Abschied begleitet und wunderschöne Fotos von den Familien und ihren Kindern macht. Das ist letztendlich die einzige Möglichkeit, sich ein Andenken zu bewahren. Alles, was die Eltern in dem Zeitraum bis zur Bestattung nicht leben, werden sie nie wieder nachholen können. Deshalb zeigen wir den Eltern ganz viele Möglichkeiten auf und versuchen zusammen mit ihnen herauszufinden, was das richtige für sie persönlich ist. Auch bei der Gestaltung der Bestattung stehe ich an ihrer Seite: Bei der Gestaltung des Sarges, beim Einbeziehen der Geschwisterkinder oder der Großeltern. Aber auch nach der Bestattung sind wir weiter für die Familie da.

Inwieweit arbeiten Sie auch mit den Vätern der Sternenkinder zusammen?

Rechel: Mir ist wichtig, dass auch die Sternenkinderpapas wissen, dass ich für sie da bin. Ich versuche, auch Ihnen den benötigten Rahmen zu bieten, in der sie ihre Trauer leben können. Aber das wird unterschiedlich angenommen. Ich sehe mich nie nur für die Frauen zuständig, sondern immer für alle, die um ein Sternenkind trauern. Das können auch Geschwister, Omas, Opas oder Freunde der Familie sein.

Dieser Artikel erschien erstmals am 19. November 2016 auf evangelisch.de.