Die Europäische Union soll sich stärker für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit einsetzen. Das fordern laut einer repräsentativen Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 87 Prozent der Deutschen. Die Studie „Solidarität in Europa“ wurde anlässlich der Diskussion des Schwerpunktthemas "So wirst du leben" (aus Lukas 10,28) auf der EKD-Synode vorgestellt.
Die Studie gibt Auskunft darüber, wie die Deutschen die Politik der Europäischen Union (EU) beurteilen und welche Reformen sie sich wünschen, wie sie die Solidarität innerhalb der EU einschätzen und wie sie über die Zukunft Europas denken. Sie zeigt, dass sich die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung als Europäer fühlt und bedeutende Erfolge der EU würdigt. Das Vertrauen in die europäischen Institutionen erweist sich dagegen mit 39 Prozent als relativ gering.
Gefragt nach ihrer Wahrnehmung der EU gab eine große Mehrheit an, sie stehe für Frieden zwischen den Mitgliedstaaten, demokratische Teilhabe und wirtschaftliche Stärke. Weniger als 50 Prozent dagegen nehmen die EU als politische Kraft wahr, die sich für sozialen Ausgleich und Bekämpfung von Armut einsetzt. Und noch weniger finden, dass sie sich für einen gerechten Ausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern einsetze oder den Finanzmarkt in seine Schranken verweise. "Zwar ist eine große Mehrheit der Befragten der Ansicht, dass die EU-Mitgliedschaft Deutschland insgesamt nutzt oder zumindest nicht schadet. Zugleich aber sehen die Befragten unabhängig von ihrer eigenen wirtschaftlichen Situation Geringverdiener und Arbeitslose eher als Verlierer europäischer Politik", so Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD.
Mit Blick auf die Zukunft des "Friedensprojekts Europa" gaben 63 Prozent an, dieses gerate durch ein Europa der Nationalstaaten in Gefahr.
Für die Studie wurden vom 20. bis 24. September 2016 insgesamt 2013 telefonische Interviews geführt. Grundgesamtheit war die deutschsprachige Bevölkerung der Bundesrepublik in Privathaushalten ab 14 Jahren.
Gastrecht für Fremde ist "Kernbestand des christlichen Glaubens"
Die Synode diskutierte außerdem den Entwurf einer Kundgebung zum Thema Europa. Darin werden Kirchen und Staaten aufgefordert, sich ihrer Verantwortung für die Flüchtlinge zu stellen. Die Aufnahme von Flüchtlingen und das Gastrecht für Fremde gehörten "zum Kernbestand des christlichen Glaubens", auf dem auch die Werte der Europäischen Union wie Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit beruhten. Dabei müsse die Behandlung von Flüchtlingen "auch als Gerechtigkeitsfrage" verstanden werden.
Zu den konkreten Forderungen gehört, die Verantwortung "nicht dauerhaft an Drittländer wie die Türkei" zu delegieren, sichere und legale Fluchtwege zu schaffen und Familiennachzug zu gewähren. Anknüpfend an die biblische Geschichte vom Barmherzigen Samariter fordert die EKD dem Entwurf zufolge Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe als Grundlage für Europa. Nötig sei, dass die Kirchen und "alle Menschen guten Willens" über Europas Zukunft in den Dialog träten. Die knapp sechs Seiten enthalten aber auch Kritik an europäischer Politik. Denn die Lage der Flüchtlinge habe viele Gründe: eine "Krise verfehlten Handelns in Wirtschaft und Politik", das Versagen von Regierungen, gewaltsam ausgetragene Konflikte, Klimaveränderungen, Krieg und Völkermord.
Die Rolle der Kirchen sei dabei, "in ökumenischer Verbundenheit für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einzutreten". Dabei werde "die Ökumene zum Lackmustest, dass Europa gelingen kann und muss", sagte Matthias Rogg, Vorsitzender des Vorbereitungsausschusses für die Erklärung, die zum Abschluss der Beratungen am Mittwoch verabschiedet werden soll.
Auch in der Kirche selbst ist laut dem Kundgebungsentwurf Dialog nötig. Die Kirche wisse, dass auch in den eigenen Gemeinden Vorurteile und Menschenfeindlichkeit "verbreitet sind". Gegenüber "populistischer Angstmache und rechter Hetze" beziehe die Kirche "klar Position". Sie sei aber auch bereit, mit Menschen zu reden, die die europäische Integration ablehnten, Angst hätten oder mutlos seien. Die Kirchen "überlassen den Rechten und Populisten nicht die Köpfe und Herzen derer, die aus Verunsicherung nach einfachen Antworten suchen".