„Wenn die Sonne ihre Strahlen morgens durch das Fenster schießt, dass sie Deine Nase kitzelt, bis du halb im Schlaf noch niest…“: Ein Chor von 15 Frauen, fünf Betreuerinnen und Betreuern und 18 Kindern singt im Gemeinschaftsraum unter dem Dach des Naturfreundehauses „Kalifornien“ ein Lied zum Start in den Tag. Es ist halb zehn Uhr morgens. Passend zum Text scheint die Sonne durch die Dachfenster in den hellen Raum mit den Holzbalken unter der weißen Decke. Vor zwei Tagen sind die Mütter mit ihren Kindern an der Ostsee angekommen. Bereits jetzt wirkt die Gruppe recht vertraut.
Weitere Lieder werden gesungen, teilweise im Kanon. „Das war schon super! Morgen machen wir das dann in drei Gruppen“, kündigt Betreuerin Petra Bollow an und lacht. Die lebhafte Frau in kurzer Hose und mit einem dicken, braunen Zopf ist selbst alleinerziehend. Sie reist regelmäßig als Ehrenamtliche mit zu der Freizeit, an der sie früher selbst als Gast teilgenommen hat.
Rettungsanker: Freizeit
Bollow weiß, wie es den Frauen hier geht. Und ihre Fröhlichkeit wirkt ansteckend und bricht schnell das Eis. „Der Austausch mit den anderen Familien ist toll. Es entsteht so eine Solidarität", sagt eine Mutter. So könne ihre Tochter hier mit anderen Kindern zusammen sein. Das sei zumindest ein kleiner Ersatz dafür, dass sie die Freizeit sonst nicht mit Mama, Papa, Oma und Opa verbringen könne.
Den Vormittag verbringen Mütter und Kinder getrennt voneinander. Schließlich sollen auch die Frauen etwas Zeit für sich haben. Nach einer Achtsamkeitsübung mit Betreuerin und Organisatorin Rita Steinbreder vom Evangelischen Frauenwerk im Sprengel Osnabrück bekommen die Frauen etwas Zeit, um auch einmal allein zu sein. „Für viele ist die Freizeit ein Rettungsanker, der sie in den Monaten zuvor über Wasser gehalten hat“, sagt Steinbreder.
Währenddessen gehen die Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren an den Strand. Sie werden unter anderem von der 17-jährigen Ira betreut. „Entschuldigung, können Sie uns sagen, wo es zum Naturfreundehaus 'Kalifornien' geht?“ Zwei Mädchen aus der Gruppe fragen am Deich ein entgegen kommendes Ehepaar nach dem Weg – obwohl sie die Richtung eigentlich kennen. Die beiden wollen Punkte für ihren Aufgabenzettel sammeln. 'Einheimische um ein Foto bitten' steht etwa darauf oder eben 'Nach dem Weg zum Naturfreundehaus fragen'. „Hauptsache, die Kinder schaffen es, Dinge zu tun, für die man schon ein bisschen Mut braucht“, erklärt der 18-jährige Betreuer Nick.
Ein bisschen Mut, oder auch etwas mehr: Das ist auch das, was die Mütter oft beweisen müssen. Eine der Teilnehmerinnen der Familienfreizeit berichtet im Gespräch mit der Landessuperintendentin für den Sprengel Osnabrück, Birgit Klostermeier, dass ihre Sorgen und Nöte im Alltag von anderen oft abgetan würden. „Das können nur andere Alleinerziehende verstehen, wie es mir manchmal geht“, sagt sie, die wie die anderen nicht namentlich genannt werden möchte. Denn: Das Thema sei doch sehr emotional und persönlich.
Dabei sind sogenannte Ein-Eltern-Familien längst keine Seltenheit mehr. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung ist in Deutschland mittlerweile jede fünfte Familie alleinerziehend. In neun von zehn Fällen handele es sich dabei um alleinerziehende Mütter. 2,2 Millionen Kinder wachsen der Erhebung zufolge in Ein-Eltern-Haushalten auf – Tendenz steigend. Immer mehr von ihnen seien von Armut bedroht. Die Hälfte der Alleinerziehenden bekommt vom Ex-Partner keinen Unterhalt für die Kinder, so die Studie.
Was den Frauen im Naturfreundehaus „Kalifornien“ am meisten zu schaffen macht, das ist das Bild der scheinbar perfekten Familie. „Warum kann ich meinem Kind keine heile Familie bieten?“ Diese Frage haben sich die meisten der teilnehmenden Frauen schon gestellt. Oft werde auch von anderen die Ursache für die Trennung ausschließlich bei der Frau gesucht: Hat sie das Kind zu sehr in den Mittelpunkt gestellt? War sie nicht mehr attraktiv genug?
Als zwei Frauen davon berichten, dass ihre kleinen Kinder im Supermarkt an der Kasse schon mal einen fremden Mann mit „Papa, Papa“-Rufen bedacht haben, steigen in den Augen einiger Mütter Tränen auf. Doch in ihren Gesichtern ist nicht nur Betroffenheit abzulesen, sondern auch Verständnis.
Trost und Beistand
„Gott spricht: Ich will euch trösten wie einen eine Mutter tröstet.“ Wahrscheinlich trifft die aktuelle Jahreslosung nirgendwo so sehr zu wie hier: Kinder, die über den Verlust der vermeintlich „heilen Familie“ hinweg getröstet werden wollen, und Mütter, die oft an der Grenze der Belastbarkeit stehen und selbst ab und an Zuwendung brauchen.
Auch jetzt kommen schnell tröstende Worte von den anderen Frauen: „Manchmal sehen die anderen Familien ja auch nur so glücklich und heil aus, dabei sind es selbst oft Patchwork-Familien“, wirft eine bislang eher still wirkende Frau in den Raum. Und eine andere pflichtet ihr bei: „Ich versuche, den Vorteil zu sehen: Ich kann vieles allein entscheiden, und mein Kind muss nicht ständig den Streit zwischen seinen Eltern miterleben – wie es vielleicht ohne eine Trennung gewesen wäre.“
„Im ersten Jahr war ich sehr traurig“, sagt die Mutter eines dreijährigen Sohnes auf die Frage von Birgit Klostermeier, ob sich das Gefühl des 'Anders-Seins' im Laufe der Zeit verändert habe. Sie habe lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass sie alleinerziehend ist, sagt die Frau. „Doch jetzt denke ich: Man muss echt und ehrlich sein; dem Kind erklären, warum der Papa nicht mehr mit im Haus lebt und dann sagen: 'Das ist jetzt so.' Und: 'Du bist nicht allein damit; anderen Kindern – zum Beispiel XY aus Deiner Klasse – geht es genau so.'“
„Wir Mütter müssen stark sein, damit unsere Kinder stark werden“, sagt eine Mutter von zwei Töchtern im Teenager-Alter. „Auch wenn es oft nicht einfach ist: Wir können froh sein, dass wir unsere Kinder haben.“ „Und die Kinder sind froh, dass sie Sie haben“, erinnert Landessuperintendentin Klostermeier die Runde. Die Bilder der vermeintlich perfekten Familie seien offenbar doch stark in den Köpfen vertreten. Sie setzten die Frauen sehr unter Druck und vermittelten ihnen häufig das Gefühl der Schuld.
„Ich wünschte, ich könnte Ihnen einige dieser vielen Selbstvorwürfe einfach nehmen", sagt Klostermeier. Auch heile Familien seien nach innen ja nicht immer heil. Und vielleicht werde dort nur nicht so sichtbar, wenn etwas Mühe mache und schlecht laufe. Die Kinder haben währenddessen einen entspannten und spannenden Vormittag erlebt: die Aufgaben sind bestanden, die entsprechenden Punkte gesammelt. Vielleicht sind auch sie ein klein bisschen mutiger geworden.