Pastorin Romi Marcia Bencke (Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien – IECLB), Generalsekretärin der brasilianischen "Conselho National de Iglejas Cristas" (Conic), war auf Einladung von Miserior vom 12.bis zum 29. Februar auf einer Besuchsreise in Deutschland, Anlass war die Fastenaktion 2016. Das Interview fand im Zentrum für Mission und Ökumene in Hamburg statt.
Pastorin Bencke, Ihre ökumenische Fastenaktion, die unter dem Motto "Unser gemeinsames Haus, unsere Verantwortung" steht, verfolgt ein handfestes Ziel: Abwasseranlagen und sauberes Wasser in Brasilien. Sie richtet sich gegen das gewaltige Staudammprojekt im Amazonasgebiet. Werden Sie gehört?
Romi Marcia Bencke: Bei einem eineinhalbstündigen Gespräch haben wir als Vertreter des Kirchenbündnisses "Conic" kürzlich unserer Präsidentin Dilma Rousseff unser Anliegen erklärt. Dabei versuchte sie uns für eine Kampagne gegen die gegenwärtige Epidemie, ausgelöst durch das Zika-Virus, im Land zu gewinnen. Das eine hat etwas mit dem anderen zu tun. Die gehäuft auftretenden Fehlbildungen bei Neugeborenen, die zunächst nur mit dem Zika-Virus in Verbindung gebracht wurden, haben auch mit verseuchtem Trinkwasser zu tun. Gegenwärtig finden an vielen Orten in Brasilien Gottesdienste und Diskussionsveranstaltungen zu unserer Fastenaktion statt, und ich reise durch evangelische, katholische und baptistische Gemeinden in Deutschland und versuche über die Probleme zu informieren.
Inwiefern haben das Zika-Virus und die beträchtliche Anzahl von Babies mit der Diagnose Mikrozephalie etwas mit verunreinigtem Trinkwasser zu tun?
Bencke: Gesundheitsorganisationen fragen, ob das Zika-Virus, das durch den Biss infizierter Moskitos auf Menschen übertragen wird, der einzige Grund für die Zunahme dieser Erkrankung ist. Im Rahmen der Bekämpfung der Dengue Mücke (Aedes aegypti) wurden viele Chemikalien auf Verdacht eingesetzt, jetzt fragt man, ob möglicherweise unbeabsichtige Nebenwirkungen aufgetreten sind. Besorgnis weckt auch, dass das neue Larvizid "Pyriproxyfen", das die Entwicklung von Moskito-Larven zu erwachsenen Mücken hemmt, in einem bestimmten Gebiet dem Trinkwasser zugesetzt wurde. Gesundheitsorganisationen weisen darauf hin, dass die Auswirkungen dieser chemischen Produkte auf Mensch und Umwelt bislang kaum bekannt sind. Die Zika-Epidemie und die Zunahme der Fälle von Mikrozephalie sehen sie in Zusammenhang mit der prekären sanitären Grundversorgung in Brasilien und der Umweltzerstörung. Die Gesundheitsverbände schlagen vor, dass die Bekämpfung des Moskitos nicht nur mit Schädlingsbekämpfungsmitteln durchgeführt wird. Für uns von CONIC hat die Zika Epidemie mit der Politik der mangelnden sanitären Grundversorgung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung zu tun. Wir, der Rat der Kirchen, glauben, dass der Staat dringend handeln sollte, um die sanitäre Basisversorgung zu verbessern.
Welche Bedeutung hat die Kampagne für die Kirchen?
Bencke: Das ist ein sehr wichtiger Moment für die ökumenische Bewegung in Brasilien. Die Leute wundern sich, wie so viele verschiedene Kirchen in Brasilien sich zu gemeinsamem Handeln miteinander verbinden können. Das ist nur möglich, weil es unter uns zurzeit große religiöse Toleranz und Offenheit gibt. Es ist schwer, gegen das aktuelle Staudammprojekt anzugehen, denn davon sind gewaltige Machtinteressen in Wirtschaft und Politik berührt. Der geplante Staudamm würde jedoch die Natur am Amazonas zerstören und die dort lebenden Menschen würden vertrieben. Das Indianervolk der Mandacaru verliert wegen dieses Staudamms sein Land. Brasilien braucht nicht den Staudamm, sondern Abwasseranlagen. Das ist unsere Mission. Wir haben eine Epidemie, die auch mit verunreinigtem Wasser zu tun hat.
Beteiligen sich die am stärksten wachsenden Kirchen in Ihrem Land, die Pfingstkirchen und die Evangelikalen, ebenfalls an dem Bündnis für sauberes Wasser?
Bencke: Indirekt. Wir hatten Jugendgruppen eingeladen, die sich dann sehr stark in unserer Fastenkampagne engagiert haben, darunter viele evangelikale Jugendliche. Das hat uns überrascht. Deren offizielle Organisationen beteiligen sich nicht.
Was macht die evangelikalen Kirchen und die Pfingstkirchen für viele attraktiv?
Bencke: Ihr momentaner Erfolg hat mehrere Gründe. Einer davon: Der Glaube an Geister und Dämonen ist in Brasilien lebendig. Die Pfingstkirchen lehnen den Glauben an Geister in der Religion der indigenen Bevölkerung radikal ab. Für sie zählen nur Jesus Christus, der heilige Geist, Gott. Die Geister der afrikanischen und indigenen Religionen, der Spiritisten, sind für sie böse, Dämonen. Auch gegen die katholischen Heiligen gehen sie radikal vor. Bei einer Aktion trat ein Evangelikaler vor der Fernsehkamera eine Marienstatue nieder. Mit solchen Showeffekten wird gearbeitet. Es werden radikale Gegensätze konstruiert: Einer Person geht es vielleicht nicht gut, weil ihr eine richtige Arbeit fehlt und die Kinder krank sind. Man sagt ihr, es liege daran, dass sie in der Vergangenheit an Candomblé, eine afro-brasilianische Religion, geglaubt hat. Die Person sagt dann von sich: Jetzt glaube ich an Jesus, und es geht mir gut. Bei den Evangelikalen gibt es nur Gut und Böse, Gott und Teufel, es gibt klare Regeln. Da wird eine Lösung angeboten und man fühlt sich erst einmal besser.
Wie äußern sich Vertreter der Pfingstkirchen zu den aktuellen Umweltfragen?
Bencke: Bei einem ökumenischen Treffen zur diesjährigen Fastenaktion äußerte sich ein Pfingstler so: Unsere Kirche sagt, dass die Klimaveränderung das von Gott angekündigte Ende der Welt ankündigt, danach wird das Reich Gottes anbrechen. Deshalb würden sich die Pfingstkirchen zu Klimafragen nicht äußern.
Die Jugendlichen, von denen Sie vorhin sprachen, verhalten sich anders. Offenbar gibt es unter den Mitgliedern dieser Kirchen unterschiedliche Haltungen.
Bencke: Das ist tatsächlich keine einheitliche Bewegung. Gerade evangelikale Jugendliche aus den Favelas möchten oft etwas für ihre Community tun und arbeiten gern mit uns zusammen.
"Sie bewerten es als freie Meinungsäußerung, wenn ein Prediger gegen Homosexualität predigt."
Die Pfingstkirchen und evangelikalen Gruppen sind wirtschaftlich erfolgreich und bedienen einen großen religiösen Markt. Was wird dort angeboten?
Bencke: Sie verkaufen da bald alles (lacht). Ich habe einmal via Internet eine Reise in diese Welt unternommen. Sie verkaufen Gospel-Musik, die großen Labels gehören ihnen. Sie veranstalten jedes Jahr ein riesiges Gospelevent. Man kann bei ihnen Kleidung für Frauen bestellen. In der Vergangenheit trugen die evangelikalen Frauen unauffällige Kleidung in diskreten Farben. Jetzt nicht mehr. Jetzt kann die Kleidung elegant sein, aber die Frau kauft sie in einem evangelikalen Laden. Sie bieten Fernkurse im Bildungsbereich und betreiben Buchverlage. Menschenrechtler kritisieren deren geschäftliche Aktivitäten und verlangen, dass den Kirchen die Steuerfreiheit entzogen wird. Sie seien Wirtschaftsunternehmen und nicht Kirche. Das ist für uns als historische Kirchen eine schwierige Diskussion. Wir geben den Menschenrechtlern recht. Aber wenn die Kirchen Steuern zahlen müssten, würde das alle Kirchen treffen.
Was bedeutet das Stärkerwerden der Pfingstbewegung und der Evangelikalen für die brasilianische Gesellschaft?
Bencke: Es gibt in Brasilien ein großes Event, das im ganzen Land begangen wird: sie nennen es "Jesus-Parade", ein "Marsch für Jesus", die da durch die Straßen zieht. Es ist eine Bewegung, die sehr konservative Werte predigt – für mich das größte Problem. Sie richtet sich gegen Frauen, Homosexuelle, Angehörige indigener Völker und gegen afrikanische Religionen.
Was setzen die traditionellen Kirchen diesen Angriffen auf Frauen und auf Minderheiten entgegen?
Bencke: Wir organisieren mit Gläubigen und Nichtgläubigen Gegenveranstaltungen, mit den Mitteln von Dialog und Diskussion, zum Beispiel Dialogveranstaltungen mit der LGBT- Bewegung (Lesbische, Gender-, Bi- und Transsexuellen-Bewegung) mit der Fragestellung: Was sagt die Bibel zum Thema Gewalt? Wie schaffen wir es, den "anderen", den Ausgegrenzten, mit Liebe und nicht mit Hass zu begegnen? Wir betreiben dies intensiv, haben aber keine so große Außenwirkung wie die Veranstalter der Parade. Pfingstler und Evangelikale sind gut organisiert und auch im Parlament stark vertreten.
Wie weit reicht deren Einfluss?
Bencke: Zu Anfang war das eine religiöse Bewegung. Die Leute gingen zur Kirche. Aber jetzt sind sie eine starke politische Kraft geworden. 90 Parlamentarier rechnen sich zurzeit der überparteilichen evangelikalen Gruppe im Parlament zu, sie bilden Allianzen, um auf unsere Gesetzgebung einzuwirken. Menschenrechtler wollten ein Gesetz gegen Homophobie durchsetzen, die Allianz verhindert das. Sie bewerten es als freie Meinungsäußerung, wenn ein Prediger gegen Homosexualität predigt. Es gibt bei uns eine heftige Diskussion über die Grenzen der Religionsfreiheit. Abtreibung ist bei uns erlaubt, wenn eine Vergewaltigung vorliegt oder der Fötus gesundheitlich beeinträchtigt ist. Aber in den Krankenhäusern, die Abtreibungen vornehmen, wird Druck auf die Mitarbeiter ausgeübt, aus Gewissensgründen die Mitarbeit bei einer Abtreibung zu verweigern.
Um ihre politischen Ziele zu erreichen, gehen sie Zweckbündnisse ein, zum Beispiel mit der Partei der Großgrundbesitzer. Sie sprechen also verschiedene Schichten in der Bevölkerung an, Arme und Reiche.
Bencke: Natürlich haben die Menschen die Freiheit ihre Religion zu wählen. Für mich stellt sich trotzdem die Frage, welche Werte hier verbreitet werden, und zwar in Verbindung mit Politik. Auch der Präsident des Parlaments, Eduardo Cunha, gehört zur evangelikalen Bewegung.
Beruht der Erfolg auf den konservativen politischen Zielen oder eher auf der populären Musik und dem Versprechen, die Menschen von allem Unglück zu befreien?
Die Gottesdienste und Ansprachen des Pastors sind emotional und persönlich. Oft redet sich der Pastor in Ekstase, schreit. Der Glaube an Jesus, davon sind die Leute überzeugt, wird ihr Leben verändern. Dann kaufen sie die Musik und die Bücher, die von der Kirche empfohlen werden und gehen in den Laden, den ein Mitglied der Evangelikalen betreibt. Die Evangelikalen predigen eine "Theologie des Wohlstands". Wenn sie an Jesus glauben, werden sie ein gutes Leben haben, im Wohlstand leben, das habe Gott versprochen, so wird es den Leuten gepredigt. Viele ärmere Leute machen mehrere Jobs. Sie sind morgens Putzfrau, arbeiten mittags im Nagelstudio und abends als Babysitter. In einer Umfrage wurden Leute gefragt, worauf sie Verbesserungen in ihrem Leben zurückführen? Die meisten antworteten: "auf Gott". Andere Gründe, etwa Mehrarbeit oder Sozialleistungen, werden nicht so wichtig genommen.
"In Brasilien passt alles. Alles ist möglich, alles ist in Bewegung."
Vielen Menschen in Brasilien ist die Religion sehr wichtig, es ist nicht ungewöhnlich, zu mehreren Kirchen zu gehören. Wie kommt das?
Bencke: Es ist ganz normal, dass jemand zu den Lutheranern geht und zugleich ins Centro Espírita zu den Spiritisten. Als die Sklaven aus Afrika nach Brasilien deportiert wurden, mussten alle katholisch werden. Aber in ihrem Herzen und auch im praktischen Leben blieben sie ihrer alten Religion treu und beteten weiter zu ihrem früheren Gott. So blieb es über Jahrhunderte bis heute. Man ist katholisch, geht aber auch zu den Zentren der afrikanischen Religion oder zu den Spiritisten. Die historischen Kirchen zeigten sich hier tolerant. Die Pfingstler dulden das nicht. Sie kämpfen gegen diese "doppelten Religionen". Seit einiger Zeit gibt es gewalttätige Übergriffe gegen Angehörige der afrikanischen Religion. Es gab in meiner Stadt, in Brasilia, eine alteingesessene afrikanische Gemeinde mit einer von Mãe Baiana geleiteten, sehr angesehenen Sozialarbeit. Im vergangenen Dezember wurde auf diese Gemeinde ein Brandanschlag verübt, ihr Gemeindezentrum verbrannte. Als Vertreter der ökumenischen Bewegung suchten wir Mãe Baiana auf, sie war sehr bewegt. Sie weiß nicht, wie sie die Arbeit mit den Kindern ohne die Räume fortsetzen soll.
Die intolerante Haltung von Seiten evangelikaler Gruppen trägt damit zu einer Ausgrenzung der afro-brasilianischen Religion bei. Zugleich gilt Brasilien als eine "religiöse Weltmacht", die eine hohe Zahl an Missionaren aussendet.
Bencke: Nicht alle, aber die Mehrzahl der Missionare werden von den evangelikalen Kirchen ausgesendet, sehr oft gehen sie nach Afrika, daneben auch in lateinamerikanische Länder, nach Argentinien, Chile, Peru.
Müssen die traditionellen Kirchen in irgendeiner Hinsicht von den Pfingstlern lernen, um selbst wieder Menschen für den Glauben zu gewinnen?
Bencke: In den traditionellen Pfingstkirchen ist die Verbindung untereinander wichtig, sind die Gottesdienste lebendig. Davon zu lernen wäre eine gute Sache. Die Neopfingstler pflegen dieses gemeinschaftliche Leben nicht. Dazu fällt mir eine Begebenheit ein. In der großen Stadt São Luís de Maranhão im Norden Brasiliens hatten wir keine evangelische Gemeinde. Dann rief uns ein Mann an, der dort eine evangelische Kirche gründen wollte. Wir fanden das komisch, aber er hoffte, so sagte er, mit der lutheranischen Kirche "Gott näher zu kommen". Heute gibt es dort eine kleine Gemeinde. Wir haben mehrere solcher Erfahrungen. In Brasilien passt alles. Alles ist möglich, alles ist in Bewegung. Das ist das ganz Besondere und Schöne in unserem Land.
Welche Aufgaben haben Sie sich für die Zeit nach Ihrer Rückkehr nach Brasilien vorgenommen?
Bencke: Wir haben viele Aufgaben. Mit der "Kampagne der ökumenischen Brüderlichkeit" haben wir uns verpflichtet, uns für sanitäre Grundversorgung einzusetzen. Wir werden eine breite Petition für ein Ende der toten Flüsse der Kategorie 4 - das sind die Flüsse, in die ungeklärtes Abwasser eingeleitet wird – auf den Weg bringen. Die Herausforderung ist groß. Diese Kampagne ist sehr wichtig im Zusammenhang mit der Zika-Epidemie. Mit dieser Kampagne mischen wir uns in die Debatte über unser Land als Entwicklungsmodell ein. Was ist das für ein Entwicklungsmodell, das nicht eine grundlegende Infrastruktur garantiert?
Zur "Conselho National de Iglejas Cristas" (Conic) gehören die Römisch-Katholische, die Anglikanische, die Evangelisch-Lutherische, die Vereinigte Presbyterianische und die Syrisch-Orthodoxe Kirche.