Frankfurt a.M. (epd)In der aktuellen politischen Debatte um mögliche Obergrenzen für Flüchtlinge werden unterschiedliche Zahlen genannt. Im Raum steht damit auch die Frage, wie viel Migration ein Land verträgt. Gibt es darauf eine wissenschaftliche Antwort? "Die Hoffnung, dass die Wissenschaft Ergebnisse hat, die Orientierung bieten, muss ich enttäuschen", sagt Professor Jochen Oltmer vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück. Die Grenze werde immer neu ausgehandelt.
Der Politikwissenschaftler Holger Kolb vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration weist darauf hin, dass es sowohl dicht als auch lose besiedelte Staaten gebe, die gut mit Zuwanderung zurechtkämen. Auch er sagt, es sei eine Illusion zu glauben, man könne genau bestimmen, wieviel Zuwanderung verträglich beziehungsweise ab wann Migration unverträglich sei. Doch gebe es Kriterien, die die Aufnahmefähigkeit infrage stellten: geografische Gegebenheiten, etwa wenn auf sehr engem Raum extrem viele Menschen leben, Ressourcenmangel oder Umweltverschmutzung.
Gleichmäßige Zuwanderung besser planbar
Jeder Staat stellt laut Kolb ein Bündel an Leistungen bereit, das auf eine bestimmte Personenzahl ausgerichtet ist. Ein klassisches öffentliches Gut sei beispielsweise die äußere Sicherheit, die von den Streitkräften gewährleistet werde. Hier entstehe durch eine wachsende Zahl von Nutzern keine Rivalität. In anderen Feldern könne es aber zu Kapazitätsengpässen kommen, etwa bei der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur, die auf eine bestimmte Anzahl von Nutzern ausgelegt ist. Der Ausbau dieser Kapazitäten könne wiederum mit hohen Kosten verbunden sein.
Dabei spiele auch eine Rolle, ob sich die Zuwanderung auf einen längeren Zeitraum erstrecke oder abrupt in sehr hoher Zahl erfolge. Eine gleichmäßige Zuwanderung sei naturgemäß besser planbar, während starke Sprünge eine größere Herausforderung darstellten, weil darauf sehr schnell mit vielen Änderungen reagiert werden müsse, erläutert Kolb.
Ob sich der kulturelle Hintergrund von Migranten und Einwanderungsgesellschaft stark unterscheide, könne zwar eine Rolle spielen, habe manchmal aber keine große Bedeutung, sagt Oltmer. Er verweist auf die starke Zuwanderung vietnamesischer Boat People Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre. Ihnen gegenüber sei die Hilfsbereitschaft in Deutschland enorm hoch gewesen, auch für ihre Integration sei viel getan worden.
Wirtschaftliche Lage entscheidend
Maßgeblich sei, wie die politischen Institutionen des Aufnahmelands die Migration managen, erklärt Benjamin Schraven vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. Es werde dann gefährlich, wenn die Menschen das Gefühl haben, sie stünden in Konkurrenz beispielsweise um Arbeitsplätze. Viel hänge von den institutionellen Möglichkeiten eines Staats ab, durch rechtliche und politische Maßnahmen Konkurrenzsituationen nicht entstehen zu lassen.
Entscheidend für die Aufnahmefähigkeit eines Landes, da sind sich die Wissenschaftler einig, ist dessen wirtschaftliche Lage. Arbeitsmärkte, die generell empfänglicher für Neuankömmlinge sind und niedrige Eintrittsbarrieren haben, könnten besser mit der Situation umgehen, sagt Kolb. Deutschland sei hier nach den Reformen der Agenda 2010 besser positioniert als etwa Schweden, wo die Arbeitsmarktsituation für Nichtschweden relativ katastrophal sei.
Laut Oltmer geht es um gesellschaftliche Verteilungskonflikte: Bei schlechter wirtschaftlicher Lage würden Neuzuwanderer als Konkurrenten um knappe Güter wie Arbeit, soziale Leistungen oder Wohnungen wahrgenommen. Hier könne die Politik eine Moderatorenfunktion einnehmen und von Beginn an ausgleichend wirken, um keine Verteilungskämpfe aufkommen zu lassen. Zugleich relativiert Oltmer die aktuelle Diskussion: Historisch verlören Debatten über Zuwanderung nach einer gewissen Zeit an Bedeutung - weil es neue Zuwanderung gebe.