Ein Novembersonntag in Köln. Unweit der neuen Großmoschee im Stadtteil Ehrenfeld liegt in einer ruhigen Seitenstraße das Gottesdiensthaus der Apostolischen Gemeinschaft, ein zweigeschossiger Quaderbau, fertiggestellt Anfang der 70er Jahre. Der Gottesdienstraum befindet sich im ersten Stock, über einem Gemeinderaum mit kleiner Küchenzeile und dem ehemaligen Ämterzimmer im Erdgeschoss.
"Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Priester Werner Wenzel eröffnet den Gottesdienst am Stehpult neben der brennenden Osterkerze. Ein Beamer wirft das Bild eines Taschenrechners auf die Wand. Der Taschenrechner zeigt die Zahl "490". Kurz darauf wechselt das Bild. Die Gemeinde singt das erste Lied, der Text wird an die Wand projiziert. "Wer ist ein Gott wie du, der die Sünde verzeiht und das Unrecht vergibt?" Werner Wenzel hat den Platz gewechselt und begleitet die eingängige Lobpreisballade an der Gitarre, zwei Sängerinnen mit Mikrofon unterstützen die Gemeinde. Die Gemeindemitglieder haben sich erhoben und singen engagiert mit, einige haben die Augen geschlossen, die Hände geöffnet.
Als im Zuge der Reformen der Apostolischen Gesellschaft auch fast alle leitenden Mitarbeiter die Kölner Gemeinde verließen, konnten die Ämter zunächst nicht nachbesetzt werden, zumindest nicht – wie traditionell üblich – mit Männern. So übernahmen Frauen die Aufgaben. Frauenpower? Vielmehr die "Power des Heiligen Geistes", sagt Silke Müller-Lonzer, eine der Mitarbeiterinnen der Kölner Gemeinde und frisch ordinierte Evangelistin. "Gott baut die Gemeinde und nicht wir. Wir helfen nur." Der Gabe von Müller-Lonzer sei es zu verdanken, dass seit einem Jahr auch ein neues Mitglied zur Gemeinde zählt. "Ich war auf der Suche", sagt Silvana Lanzillo, Arbeitskollegin von Silke Müller-Lonzer und ursprünglich katholisch. "Hier geht es um Gott und Jesus und sonst nichts, und das ist perfekt für mich."
Das "Amen" der Orgel kommt vom Band
"Danke, dass wir diesen Ort der Begegnung hier noch haben dürfen." Hirtin Ruth Lieberth ist an das Stehpult getreten und spricht das Tagesgebet. "Du wirst jetzt reden, du sollst die Regie haben durch deinen heiligen Geist." Der Predigttext des Tages: Das Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner, Matthäusevangelium. Eingeleitet wird es durch die Frage des Petrus: "Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal." Werner Wenzel steht am Pult, hinter ihm wieder das Bild vom Taschenrechner, vom Beamer an die Wand projiziert. Siebzig mal sieben, das macht 490. "Würdest du jemandem 490 Mal vergeben?", fragt der Priester seine Zuhörer. "Für ein und dieselbe Sache möglichst noch?" Durch die Stuhlreihen geht ein Raunen, ein Kopfschütteln. Nein, nicht vorstellbar.
Priester Wenzel, Elektroniker von Beruf, predigt alltagsnah und gut verständlich. Er buchstabiert durch, was das Vergeben für heutige Menschen bedeutet, er zitiert den Song "Forgiven not Forgotten" von der Gruppe "The Corrs" und den Titel eines religiösen Ratgebers: "Tu dir selbst einen Gefallen – vergib!" Die Zahl 490 symbolisiere: Da hat man aufgehört zu zählen. So gnädig sei im Universum allein einer, und das sei Gott, sagt Wenzel. Aber Jesus mahne mit dieser hohen Zahl daran, dass man immer vergebungsbereit sein solle, wenn es um den Nächsten geht. "Vielleicht", regt er an, "nehmen wir das Bild mit dem Taschenrechner, der die 490 anzeigt, mit nach Hause in den Alltag und schauen jeden Tag auf dieses Bild." Zur Erinnerung, dass man aufhören solle zu rechnen. "Kannst du das?"
Evangelistin Silke Müller-Lonzer lädt zum Abendmahl. Auf dem Tisch stehen zwei silberne Kelche. Müller-Lonzer spricht ein Dankgebet, sie formuliert frei, dann spricht sie die Einsetzungsworte. Die Gläubigen stellen sich nebeneinander in einer Reihe vor den Stufen zum Abendmahltisch auf und erhalten die Hostie, die in ein kleines Gefäß mit Wein getunkt wird, das sich in der Mitte des Kelches befindet. "In Jesu Namen segne ich euch mit der Liebe, die tief in euren Herzen gegründet und verwurzelt sein soll", spricht die Evangelistin im Schlussgebet. Das dreifach gesungene "Amen" der Gemeinde stimmt eine Orgel an – sie kommt vom Band. Der Organist einer Schwestergemeinde hat das Amen und einige traditionelle Lieder für die Kölner Gemeinde aufgenommen.
Bevor sich alle auf den Nachhauseweg machen, gibt es im Gemeindesaal im Erdgeschoss noch eine Tasse Kaffee und Kekse. Auf den Tischen stehen Kerzen, die Glaubensgeschwister erzählen und klönen, sitzen noch ein bisschen beieinander. "Wir hoffen auf ein Wunder. Wir beten für eine Erweckung, damit es weitergeht", sagt Hirtin Ruth Lieberth. "Entweder tritt die Erweckung noch einmal ein oder nicht – dann machen wir zu." Evangelistin Silke Müller-Lonzer fügt hinzu: "Es ist vieles möglich. Wir machen die Erfahrung: Man kann den Heiligen Geist erleben, kann Gottes Reden hören, und das gibt uns Hoffnung, dass es weitergeht."