Anfangs füllen sich die Plätze noch zögerlich, obwohl die Tische reichlich gedeckt sind und die zahlreichen Gastgeber ihre Gäste auffordernd herbeiwinken. Schalen mit Trauben, Äpfeln und Birnen schmücken die Tische. Gouda, Fladenbrot und Laugenbrezeln liegen auf Tellern. Kannen mit Tee und Kaffee wechseln sich mit bunten Vasen ab, in denen leuchtende Sonnenblumen stehen. Ein paar Flüchtlinge spähen neugierig aus den Fenstern ihrer Unterkünfte oder drücken sich verlegen in der Nähe der Eingänge herum. "Genug für alle", steht in bunten Farben auf einem Banner und "Refugees welcome". Als die erste Scheu überwunden ist, strömen immer mehr Menschen auf dem Rasen vor einer Flüchtlingsunterkunft in Gießen zusammen. Manche begrüßen sich mit Handschlägen, umarmen sich herzlich oder klopfen einander freundschaftlich auf die Schulter.
"Jetzt haben wir die ganze Welt hier bei uns"
Neuankömmlinge werden von Erfahreneren herumgeführt und ihren Bekannten vorgestellt. Einige stehen mit den deutschen Gastgebern beisammen, zeigen auf sich und sagen nacheinander ihre Nationalität: Somalia, Irak, Albanien, Pakistan. Kurze Zeit später gibt es keinen Tisch mehr, an dem nicht Menschen aus aller Welt gemeinsam speisen. "Das spiegelt die Wirklichkeit doch schön wider", meint Frank-Tilo Becher, evangelischer Dekan von Gießen, "erst herrscht Unsicherheit, dann kommt es zur Annäherung und sobald der Korken mal raus ist, klappt es auch mit dem Miteinander."
Ein Stück weiter steht eine dicht gedrängte Gruppe um einen Tisch. Sie halten ihre Hände auf eine Raufasertapete und malen die Umrisse mit bunten Filzstiften nach. Anschließend schreiben sie ihren Namen in die entstandene Handfläche. Anke Illmer hatte spontan diese Idee. Sie kommt gut an. "Was zeigt besser, dass wir alle zusammengehören?", fragt sie. Das fertige Kunstwerk soll in den nächsten Tagen in einer Flüchtlingsunterkunft aufgehängt werden.
Die Bäume werfen das erste Laub auf die Gehwege, wo sich Flüchtlingskinder verschiedenster Nationalitäten lachend hinterherrennen. Ein paar Jugendliche haben eine Slackline zwischen zwei Bäumen gespannt und helfen jungen Muslimas bei ihren ersten Gehversuchen auf dem Stoffband.
Es sind Szenen, die zeigen, wie das "helle" Deutschland aussehen kann. Menschen aus aller Welt sitzen ungeachtet ihrer Herkunft zusammen. Alle essen, trinken, lachen, unterhalten sich mit Händen und Füßen, versuchen einander zu verstehen und kennenzulernen. Das ist besonders in Gießen, unweit der zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Hessen, ein starkes Zeichen. Beinahe 6000 Flüchtlinge wohnen derzeit hier, in den Baracken einer ehemaligen Kaserne, umgeben von hohen, stacheldrahtbewehrten Zäunen – kein gastfreundliches Szenario.
Die kleine Gruppe kontaktierte befreundete Gemeinden, ließ Einladungen auf Arabisch, Persisch und Urdu übersetzen und in den Unterkünften aufhängen. Viele Flüchtlinge sind dem Aufruf gefolgt, kein Tisch ist leer geblieben. "Die Unterstützung ist gigantisch", freut sich Ihle. Dabei hatte er sich das Ganze sogar noch größer vorgestellt. Anfangs wollte er eine mehrere hundert Meter lange Tafel für tausende Flüchtlinge auf der Straße vor der Erstaufnahmestelle aufbauen. "Da war ich etwas größenwahnsinnig", sagt er lachend. Letztlich fehlte die Zeit, da die Idee überhaupt erst vor vier Wochen aufkam. Um die 120 Helfer aus 25 beteiligten Kirchengemeinden sind schließlich mit Essen und Tischen erschienen.
"Ich will nicht kämpfen. Ich will Frieden"
"Es mangelt bisher vor allem an Begegnungsräumen", sagt Matthias Schmidt, Propst von Oberhessen. "Die Kirchen haben die Kraft, die Ängste vieler Menschen zu benennen und zu nehmen", fügt er hinzu. "Immer mehr Menschen werden jetzt im Alltag Flüchtlingen begegnen", ergänzt Hermann Wilhelmy, Flüchtlingspfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. "Da sind unsere kirchlichen Strukturen gefordert, wir können und müssen das begleiten."
Nur manchmal bricht etwas von dem Martyrium, das viele der Anwesenden durchgemacht haben durch das Idyll auf dem Rasen zwischen den drei großen Wohnheimen. Vereinzelte Flüchtlinge wirken noch immer erschöpft, blicken mit leeren Augen auf den Boden. Andere versuchen gegen Ende der Veranstaltung so viel Essen wie möglich einzupacken, hamstern, als hätten sie Angst, dass es bald wieder knapp werden könnte.
Ali Obayd, 28, und sein Cousin Muhammad, 23, aus Syrien kamen über das Mittelmeer. Sie sprechen nur ein paar Brocken deutsch und englisch, aber versuchen gestikulierend ihre Flucht nachzustellen. Auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland sank ihr Boot unweit der Küste. Ali und Muhammad konnten sich schwimmend ans Ufer retten. Seit einem Monat sind sie nun in Deutschland.
Nicht weit entfernt sitzen ein paar junge Syrer einigen älteren, grauhaarigen Damen gegenüber. Sie unterhalten sich angeregt. Einer von ihnen zeigt nach der Reihe auf die anderen und erklärt den Frauen lautstark: "Christ, Muslim, Christ, Muslim: Wir haben alle einen Gott!" Er macht eine einladende Armbewegung: "Und hier sind wir alle Brüder und Schwestern."