Mit dem offiziellen Titel "Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn" erschien dieses Dokument der Evangelischen Kirche in Deutschland vor 50 Jahren. Stoßrichtung der umstrittenen Ostdenkschrift war es 20 Jahre nach Kriegsende, einer Verständigung zwischen Deutschen und Polen nach leidvoller Geschichte näherzukommen.
Kein Deutschland in den Grenzen von 1937
Mit dem Papier bezog die evangelische Kirche Stellung zu dem Anspruch auf die früheren deutschen Ostgebiete und brach so mit einem parteiübergreifenden Tabu bundesdeutscher Politik. In dem Text wurde das Unrecht gegenüber den deutschen Vertriebenen beklagt, zugleich jedoch empfohlen, das Heimatrecht der polnischen Bevölkerung in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie anzuerkennen. Im Klartext plädierten die Verfasser, unter ihnen der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, dafür, sich von Positionen zu lösen, die auf eine Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 beharrten.
War Aussöhnung mit Polen das Motiv der EKD-Denkschrift, so wirkte sie in der damaligen bundesdeutschen Öffentlichkeit stark polarisierend. Die Empörung fiel heftig aus. Verrat und Verzicht waren Vorwürfe, denen sich die evangelische Kirche konfrontiert sah. Neben den Vertriebenenverbänden waren es vor allem konservative Kreise in Politik, Gesellschaft und Kirche, die mit Ablehnung auf die kirchliche Einmischung reagierten.
"Seelsorgerischer Beitrag"
Kritikern des Textes hielt Vizepräsident Erwin Wilckens von der EKD-Kirchenkanzlei, der als "Vater der Ostdenkschrift gilt, entgegen, es habe sich um einen seelsorgerlichen Beitrag in einer heiklen historischen Situation gehandelt. Der Kirche sei es darum gegangen, "ohne Hass die Vergangenheit auch mit anderen Augen zu sehen. Ohne Verkürzungen die ganze Wirklichkeit zu erfassen und ohne Illusionen die Aufgaben der deutschen Politik in den Rahmen der weltpolitischen Möglichkeiten von heute und morgen hineinzustellen".
Unter Historikern gelten die politischen Wirkungen der Ostdenkschrift weithin unbestritten. Auch wenn sich die offizielle Politik mit Reaktionen zurückhielt, so gab es doch indirekt Signale, dass man auf ein solches Wort gewartet habe. Für die neue Ostpolitik, die ab 1969 von sozialliberalen Regierung Willy Brandt forciert wurde, war sie als ein auslösendes Moment neben dem Brief der katholischen Bischöfe Polens vom November 1965. Am Gedenktag der Vertreibung sagte Bundespräsident Joachim Gauck im Juni 2014, der Perspektivwechsel in Blick nach Osten habe erst Mitte der 1960er-Jahre eingesetzt - "wesentlich vorangetrieben durch die Ostdenkschrift der evangelischen Kirche und den Brief der polnischen katholischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder".
Forderungen nach neuer Denkschrift zu Ukraine-Konflikt
Der evangelische Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf bescheinigte 2014 in einem Interview der Zeitschrift "zeitzeichen": "Die Ostdenkschrift ist deshalb so erfolgreich gewesen und hat die Politik über 1965 hinaus beeinflusst, weil sie ein bemerkenswert behutsamer Text war. Da wurde nicht laut gefordert, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Und es wurde auch nicht suggeriert, die Kirche verstünde die komplexe völkerrechtliche Lage besser als andere." Vielmehr sei sehr vorsichtig daran erinnert worden, dass die aktuelle Lage in Europa eine Folge des von Deutschen verschuldeten Zweiten Weltkrieges war. "Das war eine andere Art von kirchlicher Stellungnahme zu einem politischen Problem, als sie heute üblich ist", sagte Graf, der zumeist den Kurs der EKD kritisch sieht.
Ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen der Ostdenkschrift gibt es Forderungen nach einer "neuen Ostdenkschrift". Vor der Folie des Ukraine-Konflikts und neuer Ost-West-Spannungen machen sich Theologen und frühere DDR-Bürgerrechtler dafür stark, dass sich die Kirche für eine neue europäische Friedensordnung einsetzt. "Wir gehen in die Irre, wenn wir meinen, eine Front der Guten gegen die Bösen vor uns zu haben", wird in einer Resolution gewarnt, die beim Stuttgarter Kirchentag beschlossen wurde und als Adressat den Rat der EKD hat.
Konrad Raiser, Ex-Generalsekretär des Weltkirchenrates und einer der Initiatoren der Entschließung, ist zuversichtlich, dass die EKD sich dieser Aufgabe stellen werde. Ein Kirchenwort zur rechten Zeit könne durchaus etwas bewirken, sagt der Theologe mit Blick auf den deutschen Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ab 2016.