Es beginnt wie ein Krimi: Die Kutsche Martin Luthers wird 1521 auf dem Rückweg vom Wormser Reichstag nach Wittenberg von bewaffneten Reitern gestoppt. Der Reformator wird in Thüringen verschleppt, niemand weiß wohin. Tatsächlich hat der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise den Geächteten auf die Wartburg in Sicherheit bringen lassen.
Im erzwungenen Exil beginnt Luther (1483-1546) im Dezember mit der Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche. Im Briefaustausch mit seinen Wittenberger Universitätskollegen schließt er sie in nur elf Wochen ab. Die im September 1522 veröffentlichte erste Auflage mit 3.000 Exemplaren ist in wenigen Wochen vergriffen. Schon im Sommer hatte Luther mit seinen Kollegen die Übersetzung des Alten Testaments aufgenommen, die erste gesamte Lutherbibel erschien 1534. Bis zu Luthers Tod 1546 seien einschließlich der Raubdrucke rund 430 Teil- und Gesamtausgaben seiner immer wieder überarbeiteten Bibelübersetzung erschienen, zählt der Innsbrucker Germanist Jörg Meier. Dabei war Luther gar nicht der Erste, der die Bibel ins Deutsche übersetzte. Davor waren bereits 18 deutsche Bibelausgaben gedruckt worden. Aber es war seine Übersetzung, die eine ungeheure mediale Wirkung erzielte.
Das lag zum einen daran, dass Luther nicht einen der zahlreichen deutschen Dialekte wählte, sondern die sächsische Kanzleisprache, die weithin in Deutschland verstanden wurde. Zum anderen lag es an seiner Maxime, allgemeinverständlich zu übersetzen: "Man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und danach dolmetschen", erklärte er. Außerdem war der Reformator der erste, der als Vorlage neben der lateinischen Vulgata die Urtexte in griechischer und in hebräischer Sprache nutzte, die erst wenige Jahre zuvor herausgegeben worden waren.
Ferner war entscheidend, dass Luthers Theologie der Bibel einen herausragenden Stellenwert verschaffte: "Als Heilsmittel und als Glaubensnorm nahm sie eine zentrale Rolle im kirchlichen und religiösen Leben der Reformation ein", urteilt der Marburger Kirchengeschichtler Wolf-Friedrich Schäufele. Luthers theologische Erkenntnis: Gott offenbart sich in der Bibel selbst. Man braucht nicht die Kirche, um ein persönliches Verhältnis zu Gott zu bekommen. Jeder Gläubige hat durch die Bibel direkten Zugang zu Gott.
"Mit der Lutherbibel lernte man das Lesen"
Und letztlich trug zum Erfolg der Lutherbibel bei, dass sie massenhaft gedruckt und dadurch im Preis erschwinglich wurde. Nach Angaben des Münsterer Kirchengeschichtlers Albrecht Beutel wurde sie ganz oder in Teilen in den ersten 50 Jahren an die 100.000 Mal gedruckt. "Musste man vor Luther für einen Bibeldruck den heutigen Gegenwert eines Mercedes der S-Klasse bezahlen, so kostete eine Lutherbibel im 16. Jahrhundert so viel wie heute ein Kühlschrank", vergleicht der Theologe Hartmut Hövelmann.
Die Lutherbibel wurde das Bildungsbuch der Schulen in den evangelischen Fürstentümern und Städten bis 1800, erläutert Hövelmann. "Mit der Lutherbibel lernte man das Lesen und die deutsche Sprache." Ihre Formulierungen wandelten sich zu Redewendungen, etwa "Hochmut kommt vor dem Fall" (Sprüche 16,18), "Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein" (Prediger 10,8), "Ihr sollt eure Perlen nicht vor die Säue werfen" (Matthäus 7,6), "ein Herz und eine Seele sein" (Apostelgeschichte 4,32). Die biblische Weihnachtsgeschichte sei nahezu jedem Deutschen in ihrem Lutherton im Ohr: "Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging" (Lukas 2,1).
Luthers Wirkung auf die deutsche Sprache sei herausragend, urteilt der Germanist Jörg Meier. Luther habe mit den anderen Reformatoren die Entwicklung einer überregionalen Schriftnorm beschleunigt. "Luther hat uns unsere Sprache gegeben, sie ist auch die Sprache Goethes, Schillers, Wielands", sagt der frühere Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Anglist, Autor und Übersetzer Klaus Reichert. "Die Lutherbibel ist eines der großartigsten Zeugnisse für die deutsche Literatur der Renaissance." Ohne sie hätte es das evangelische Christentum und dessen Volksfrömmigkeit nie gegeben.
Nicht mehr für alle Protestanten ist sie laut Hövelmann ein normatives Buch. Gleichwohl genieße sie eine höhere Wertschätzung als irgendein Roman: "Bibeln werden kaum auf den Trödelmarkt getragen, sie bleiben im Bücherregal."