Was hat sich in den vergangenen Wochen in Siegen verändert?
Dietrich Hoof-Greve: In der Turnhalle in Weidenau, die offiziell zur Universität gehört, haben zwischenzeitlich bis zu 200 Menschen aus 17 Nationen Unterkunft bekommen. Sie wurden aus Erstaufnahmestellen an uns in Siegen an die Universität überwiesen. Unklar war zunächst der Status der Menschen. Wir haben gesagt, wir betrachten sie als Obdachlose, die einen Anspruch auf ein Bett und eine warme Mahlzeit haben. Diese Notversorgung hat man in Siegen den Menschen sehr kurzfristig geben können. Da haben fantastisch viele Menschen zusammengearbeitet: aus der Universität, vom Deutschen Roten Kreuz, von den Studierenden des ASTA. Der ASTA hat innerhalb von vier Tagen eine Liste mit 50 Dolmetschern zusammengestellt. Die ESG stellt im Bedarfsfall auch ein Gästezimmer zur Verfügung, weil es ja immer mal passieren kann, dass eine schwangere Frau oder ein Mensch, dem es nicht zuzumuten ist in einer Massenunterkunft in doppelstöckigen Betten zu schlafen, einen Rückzugsort braucht.
Ist mit diesen 200 Menschen in der Turnhalle das Weltgeschehen in Siegen angekommen?
Hoof-Greve: Ja, in der Form ist es für Siegen das erste Mal gewesen. Die Stadt ist außerdem auf der Suche nach leeren Objekten für die Flüchtlinge, die schon registriert sind und in die Kommunen weiterverwiesen worden sind. Das sind in Siegen bisher cirka 360 Menschen. Das sind häufig Gottes vergessene Kinder. Das sind Menschen, die zum Teil unter wirklich sehr unwürdigen Bedingungen leben. Eine Gruppe von jungen Männern, die wir kennengelernt haben, ist beispielsweise in einem alten Sportlerwohnheim untergebracht.
"Die Sinnhaftigkeit des Tuns spüren wir durch und durch. Es ist ja auch ein Stückweit eine Kompensierung unserer Ohnmachtsgefühle."
Wie ergeht es diesen jungen Männern?
Hoof-Greve: Die Männer stammen aus Ländern in Afrika, aus Afghanistan und Marokko. Wir haben sie gefragt: 'Wie können wir Euch helfen?' Da kam die Frage nach Putzmitteln und Schrubber und Besen. Übereinstimmend in allen Sprachen kam zudem der Wunsch: 'Wir wollen Deutsch lernen!' Das haben wir dann organisiert. Spontan haben sich neun Frauen und ein Mann gefunden, die hier in vier Schichten an vier Tagen Deutsch als Fremdsprache unterrichten. LehrerInnen und Schüler lachen viel und lernen viel. Da ist ein sehr inniges Verhältnis.
Wie unterstützen Sie die Männer außerdem?
Hoof-Greve: Wir versuchen sie punktuell zu unterstützen, zum Beispiel haben sie von uns Fahrräder bekommen. Gestern haben wir zusammen gekocht und gefeiert. Die jungen Männer haben im Sportlerwohnheim nur einen Zweiplattenherd, einen für 20 Leute! Wir dürfen nichts weiter anschließen, das erlaubt der Besitzer der Immobilie nicht. Damit müssen sie zurechtkommen. Von daher ist es für sie ein Kleinod, vernünftig zu essen und zu kochen. Am Dienstag haben sie gezeigt, dass sie das können. Mit ihren Siegener Ausweisen sind wir zusammen zur Tafel gegangen und haben dort viele Taschen füllen dürfen mit leckeren Lebensmitteln. Herausgekommen ist dann ein Geflügelgericht mit Pommes, Salat und einem großen Nachtischbüffet aus Obst und weiteren Leckereien. Einfach klasse.
Wie geht es Ihnen und den Deutschlehrerinnen mit ihrer neuen Aufgabe?
Hoof-Greve: Am Dienstag standen wir um unseren gedeckten Tisch und ich habe ein Tischgebet gesprochen. Battista reichte das nicht, er musste nochmal nachbeten, das war toll. Eine Deutschlehrerin hat ihre Geburtstagsfeier auf unser gemeinsames Kochen verlegt. Das war ihr wichtig. Die Sinnhaftigkeit des Tuns spüren wir durch und durch. Es ist ja auch ein Stückweit eine Kompensierung unserer Ohnmachtsgefühle. Wir haben diese undurchschaubaren Zahlen, von denen wir uns keine Vorstellung machen können. Wir haben schreckliche Bilder von Menschen auf kleinen Booten vor Augen. Dann, auf einmal, sind sie da. Zum Beispiel Theo: Irgendwann stand er vor dieser großen Karte und zeigte auf Guinea und sagte, 'hier komme ich her'. Guinea liegt in Westafrika. Das heißt, er muss irgendwie über das Mittelmeer gekommen sein. Er muss auch diese furchtbare Route hinter sich haben. Und am Dienstag tanzte er hier auf afrikanische Rhythmen ausgelassen und heiter. Das war schön.
"Wenn es den Kindern gut geht, dann geht es auch den Eltern besser."
Wie hat sich ihr Leben durch ihr neues Aufgabenfeld verändert?
Hoof-Greve: Am letzten offiziellen Vorlesungstag kam die Meldung, dass hier 200 Gäste kommen. Seitdem beschäftige ich mich von morgens um zehn bis nachmittags um drei rund um die Uhr mit der neuen Situation. Ich habe zum Beispiel einen Aufruf für Ehrenamtliche auf Facebook und in den umliegenden Gemeinden gestartet. Die Reaktion ist überwältigend. Es haben sich gerade unter den Christinnen und Christen sehr viele Menschen bereit erklärt, ihre Zeit zu schenken. Ganz konkret bedeutet das: Sie helfen beim Essen ausgeben, bei Fahrdiensten, bei Besorgungen, bei der Begleitung von Flüchtlingen zu Ärzten und sie sind auch einfach da und ansprechbar. Da ist im Moment ein gutes Miteinander zwischen den Kräften und ich glaube, das ist auch der Grund, warum es so ruhig ist. Ich habe von keiner Gewaltszene bisher gehört. Wir haben einfach eine entspannte Atmosphäre.
Wie schaffen die Helfer diese entspannte Atmosphäre?
Hoof-Greve: Ein Beispiel: Ungefähr ein Drittel der Menschen in der Unterkunft sind Kinder. Sie werden von Studierenden betreut und können neben der Turnhalle auf dem Spielplatz des Kindergartens spielen. Sie werden mit Malangeboten und Spielen bei Laune gehalten. Wenn es den Kindern gut geht, dann geht es auch den Eltern besser.
Sie haben eine neue Rolle und damit möglicherweise auch eine neue Sicht auf das, was in Deutschland gerade passiert?
Hoof-Greve: Ich erlebe, dass da eine Welle auf uns zuschwappt, von der wir bisher wahrscheinlich nur die erste Schaumkrone sehen. Die Zahlen, die diese Woche wieder durch die Medien gingen, haben viele Nullen. Dahinter steckt die Herausforderung, diese Menschen zu versorgen, willkommen zu heißen und erstmal nicht zu fragen: 'Hast du jetzt einen berechtigten Grund zu kommen oder nicht?' Die Menschen machen sich nicht ohne Not auf, um in Deutschland irgendetwas zu suchen, was sie noch nicht haben.
In uns allen gibt es wahrscheinlich die Auseinandersetzung mit diesem Unwort "Wirtschaftsflüchtlinge". Die Bibel ist voller Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen haben. Das ganze Buch Rut ist eine Flüchtlingsgeschichte von Menschen, die aus Bethlehem, weggegangen sind, um in der Fremde ihr Brot zu suchen. Auch Mose war ein Flüchtling. Genauso wie die Menschen heute mussten sie aus wirtschaftlicher und politischer Not heraus fortgehen. Von daher finde ich es schwierig über diesen Sammelbegriff "Wirtschaftsflüchtlinge" eine bestimmte Motivation zu diskriminieren.
Da, wo die Deutschen den Flüchtlingen nahekommen, heben sich die Vorbehalte womöglich auch auf?
Hoof-Greve: Klar, aber es müssen politische Lösungen her. Stichworte sind: ein Einwanderungsgesetz, die Grenzen, die Regulierung des Arbeitsmarktes. Da sind andere Menschen auch gefordert, ihre Hausaufgaben zu machen. Wenn ich in der Situation wäre, dass ich mit 2 Euro 50 Tagessalär meine Familie ernähren müsste, ich hätte auch meine Sachen gepackt. Insofern habe ich sehr viel Verständnis für die Not der Menschen und ihre Motivation. Aber ob das jetzt die Lösung ist und wie genau eine andere Lösung aussehen könnte, weiß ich nicht.
Hat sich ihr Glaube verändert?
Hoof-Greve: Der Siegerländer sagt: "Net schwätze, mache". Hier sind auf einmal bedürftige Menschen, die unter die Räder gefallen sind. Sie brauchen etwas von uns, wir sind als Christinnen und Christen gefordert. Zu sagen: 'Irgendjemand wird es schon richten', reicht nicht. Es wird im Moment niemand richten. Wenn wir nicht anpacken, wer dann? Wir haben auch in Siegen bis zum heutigen Tag einen Großteil der Arbeit mit Ehrenamt abgedeckt. Der barmherzige Samariter, der ist jetzt hier im Siegerland gesucht und gefragt. Mit der fantastischen Geschichte Matthäus 25 ausgedrückt: Jesus sagt den Menschen, 'wenn ihr die Menschen in ihrer Not besucht', ich sage jetzt mal: im Krankenhaus, in den Gefängnissen oder in der Turnhalle, 'dann findet ihr vielleicht mich dabei. Auch, wenn ihr mich nicht direkt seht, aber ich bin es, dem ihr da unter die Arme greift'. Das gibt ein gutes Gefühl, ein Stückchen Gottesdienst zu tun mit Rat und Tat und nicht nur mit der Verkündigung.