Zehn Sonntage nach dem Trinitatisfest begeht die evangelische Kirche den Israelsonntag. Er war ursprünglich ein "Gedenktag der Zerstörung Jerusalems". Deshalb lag er in zeitlicher Nähe zum jüdischen Gedenktag an die Zerstörung(en) des Jerusalemer Tempels am 9. des Monats Av (dieses Jahr am 25. Juli). Heute hat dieser Tag eine deutliche Akzentverschiebung erfahren: Es geht um die besonderen Bande der Kirche zum Judentum und um Gottes bleibende Treue zu seinem Volk Israel.
Dieses Jahr, am 9. August, wird es hoffentlich ein "Begehen" auch im wörtlichen Sinne geben. Denn die Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK) schlägt den evangelischen Gemeinden vor, im Anschluss an die Gottesdienste die nächstgelegene jüdische Gemeinde zu besuchen. Zu einer schlichten Begegnung, einem Umtrunk – sozusagen zum "Kirchenkaffee" im Garten der jüdischen Nachbarn.
Interpretation des Bibeltextes hat sich gewandelt
Klassischer Predigttext für diesen besonderen Sonntag ist – zurückreichend bis auf die Zeit vor Martin Luther – Lukas 19,41ff.: Jesus weint über Jerusalem. Über Jahrhunderte hinweg war der Text Sprungbrett für unverhohlenes Hohngelächter über das in Trümmern liegende, weil verworfene Jerusalem. Triumphgesang einer obsiegenden christlichen Kirche über das defizitäre Judentum.
Lukas 19 ist geblieben. In den letzten Jahren flankiert durch die Perikope zum Doppelgebot der Liebe aus Markus 12. Die Diktion indes hat sich in neuerer Zeit grundlegend gewandelt: Statt eines verdammenden Todesurteils wird in Jesu Weinen über Jerusalem das Mitleiden mit einer Stadt und einem Volk gehört, denen einfach kein Frieden gelingen will. Jesus klagt nicht an, er klagt.
War die Zerstörung Jerusalems als Strafe gedacht?
2015 ist uns innerhalb der Reformationsdekade besonders das Wortpaar Bibel/Bild aufgegeben. Martin Luther stellt sich in seinen Predigten zu Lukas 19 das Bild des zerstörten Jerusalems vor Augen und knüpft daran die mahnende Warnung an die Kirche: die eigene Erwählung nicht durch Trägheit und Ungehorsam zu verspielen. "Dies Evangelium sollen die Christen fleißig merken, dass sie daraus lernen Gott fürchten", heißt es in einer Predigt aus dem Jahr 1544. "Denn so er die heilige Stadt Jerusalem, sein höchstes Kleinod auf Erden, also zerreißen lassen hat, dass kein Stein auf dem anderen geblieben ist, darum dass die Juden das Evangelium hörten und sich nicht besserten: so darfst du nicht denken, dass er es uns schenken werde, wenn wir in dergleichen Sünde auch liegen."
Luthers Mitreformator Johannes Bugenhagen hatte ein Werk verfasst, das über Jahrhunderte breiteste Beachtung fand: Er verband seine Zusammenstellung der Passionserzählungen aus den Evangelien mit der Schilderung des Untergangs Jerusalems durch Josephus Flavius – die Suggestion einer inneren Logik, der auch Luther und viele seiner Zeitgenossen erlagen: Die Zerstörung Jerusalems ist die Strafe für die Kreuzigung des Gottessohnes.
Luther forderte Demut der Juden
"Dies ist nun die klägliche jämmerliche Strafe, welche Gott über sein Volk verhängt und damit ein Ende gemacht hat, welches er doch mit so großer Herrlichkeit und Wunderzeichen aus Ägypten geführt, in das Land Kanaan gesetzt, ihr Vater gewesen, so freundlich mit ihnen geredet und umgegangen ist", so Luther in seiner Predigt. "Da sie aber sein Wort verachteten und ihm nicht folgen wollten, hat er solchen Zorn und gräuliche Strafe über sie gehen lassen." Luther wendet all die paulinischen Prädikationen Israels aus Römer 9,1-5 – der Epistellesung für den Israelsonntag – in die Vergangenheit. Nichts gilt mehr von dem, was dem Gottesvolk einst zugesagt wurde. Gottes Gnadengaben an Israel, die für Paulus präsentische Gültigkeit haben und auch in Zukunft in Kraft sein werden, geraten für Luther zu Bruchstücken einer abgetanen Vorzeit.
Wieder und wieder variiert Luther diesen einen Gedanken: "Jerusalem würde noch heute so stehen wie zuvor, wenn die Juden sich erkannt, gedemütigt, und gesagt hätten: Lieber Gott, wir haben ja Unrecht getan, dass wir so böse Buben gewesen und deine lieben Knechte, die Propheten, gewürgt haben. Nun, du hast uns jetzt durch deinen lieben Sohn das heilige Evangelium gegeben, gib Gnade, dass wir uns bekehren und frömmer möchten werden. Wenn sie das getan hätten, hätten sie keine Not gehabt. Weil sie aber in Sünden fortfuhren (…) da ging es ihnen so, dass kein Stein auf dem anderen blieb. Und steht nun das arme, zerstörte, verwüstete, Jerusalem zum Beispiel da aller, die mutwillig böse sind und sich nicht bessern wollen, dass sie die gleiche Strafe auch leiden werden."
Es geht nicht schmerzfrei ab, im Hinblick auf das Reformationsjubiläum auch die Schattenseiten im Wirken Martin Luthers wahrzunehmen. Es bleibt wie ein Stachel im protestantischen Gemüt, dass sich viel später einer der Protagonisten der NS-Herrschaft, Julius Streicher, vor dem Nürnberger Gerichtshof auf Luther berufen konnte und letztlich den Reformator selbst auf der Anklagebank sah. Im Rückblick auf die Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 stand der damalige Thüringer Landesbischof Martin Sasse keineswegs alleine da, wenn er triumphal feststellte: "An Luthers Geburtstag brennen die Synagogen."
Der Predigt am Israelsonntag heute ist ein großer Anspruch mitgegeben: Im Weinen um Jerusalem jene Empathie und Sympathie zum Ausdruck zu bringen, die in Jesu Tränen liegen. Sie erinnern mich an das Gedicht "Weltende" der jüdischen Lyrikerin Else Lasker-Schüler:
Es ist ein Weinen in der Welt,
als ob der liebe Gott gestorben wär,
und der bleierne Schatten, der niederfällt,
lastet grabesschwer.
Komm, wir wollen uns näher verbergen…
Das Leben liegt in aller Herzen
wie in Särgen.
Du, wir wollen uns tief küssen…
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
an der wir sterben müssen.
Mit dem Bild des Weinens knüpft Lasker-Schüler an das alttestamentliche Motiv der Klage des Volkes Israel über die Zerstörung des Ersten Tempels und über die Verschleppung nach Babylonien an. Psalm 137 beginnt mit den Worten: "An den Strömen von Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten." Das Weinen – die Trauer, die mit der Erfahrung des Exils verbunden ist – wurde für Else Lasker-Schüler Wirklichkeit: Als sie Mitte März 1939 von der Schweiz, der ersten Station ihres Exils, nach Palästina übersiedelte, hielt sie in Zürich im "Zunfthaus zur Meise" einen Abschiedsvortrag. Am Schluss steht das Gedicht "Weltende": Es ist ein Weinen in der Welt...