Idealisierender Blick auf Luther

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Idealisierender Blick auf Luther
Der Religionswissenschaftler Christian Wiese über die jüdische Sicht auf den Reformator
Im Judentum hat nach Ansicht des Religionswissenschaftlers Christian Wiese lange Zeit ein weitgehend positives Lutherbild existiert. Vor allem das Reformjudentum des 19. Jahrhunderts habe in Martin Luther ein Vorbild für eine "jüdische Reformation" gesehen, sagte der evangelische Theologe in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
10.06.2015
epd
Barbara Schneider, Rainer Clos

"Es sind hier immer wieder sehr positive Stimmen zu finden, die Luther als Vorläufer von Gewissensfreiheit, Toleranz und Aufklärung verstanden." Die antisemitischen Äußerungen Luthers seien lange Zeit ausgeklammert worden.

Am Mittwochabend beginnt in Berlin eine Tagung des Zentralrates der Juden und der Evangelischen Akademie zur jüdischen Perspektive auf Luther. Wiese warnte davor, die positiven Stimmen im Judentum zu verwenden, um zu belegen, dass der frühe Luther "aus jüdischer Perspektive gar nicht so schlimm gewesen sei". Denn diese Deutung habe den historischen Kontext nicht im Blick. "Es war der verzweifelte Versuch, dazuzugehören und sich mit der Figur Luther zu identifizieren." Die jüdischen Gelehrten hätten versucht, Luther besser zu verstehen als der Protestantismus ihn verstand.

In den 1930er Jahren Wandel des jüdischen Lutherbildes

Luther habe für liberale Juden eine geistige Tradition in Deutschland verkörpert, "die der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden förderlich ist". Dies sei ein sehr idealisierendes Lutherbild gewesen. Zugleich verwies der Wissenschaftler aber auch gegenläufige Bewegungen, die vor allem Luthers Obrigkeitsgeist und seine Beziehung zu den Territorialfürsten kritisierten.

Einen Wandel des jüdischen Lutherbildes gab es Wiese zufolge in den 1930er Jahren. Dann habe sich im Judentum die Erkenntnis durchgesetzt, "dass die jüdische Liebesgeschichte mit Luther ein tragischer, völlig vergeblicher Versuch war". Der Religionswissenschaftler ergänzte: "Wenn Luther jetzt in der jüdischen Literatur auftaucht, dann als Ahnherr des Antisemitismus." In dieser Hinsicht sei Luther "eine äußerst negative Gestalt im Ahnenreigen des christlichen Antisemitismus".