Wenn Silke Leng aus dem Fenster schaut, sieht sie zwei Schulen. Und eine Menge Autos davor: Eltern, die ihre Kinder abholen. "Am liebsten möchte ich laut rufen: Lasst sie doch zu Fuß gehen!" sagt die 50-jährige Diakonin aus dem schleswig-holsteinischen Neumünster. "Den Kindern täte das doppelt gut: Sie können sich bewegen, und sie haben später eine intakte Umwelt, weil wir weniger Abgase produzieren."
Silke Leng, tätig an der Ökumenischen Arbeitsstelle Kirchenkreis Altholstein, ist eine lebhafte Frau mit schmalem Gesicht und offenem Lachen. Klimafreundliches Verhalten ist schon lange ihr Thema, und vielleicht schafft sie es im Herbst, tatsächlich mehr Schüler und Eltern zum Laufen zu bringen: Mit der Aktion "Geht doch! Ökumenischer Pilgerweg für Klimagerechtigkeit".
Klimawandel verschärft soziale Ungerechtigkeit
Ab dem 13. September werden dann Pilger von Flensburg zum UN-Klimagipfel 2015 in Paris laufen, der Ende November beginnt. In Metz stoßen weitere Pilger aus Ludwigshafen dazu. Auf dem Weg wollen sie auf die sozialen Folgen des Klimawandels aufmerksam machen und ihre Forderungen nach einem neuen wirksamen Abkommen unterstreichen. "Der Klimawandel verschärft soziale Ungerechtigkeit", sagt Jan Christensen, Pastor für Umweltfragen in der Nordkirche und einer der Initiatoren. "Die Industriestaaten, die am meisten dazu beigetragen haben, leiden am wenigsten unter den Folgen. Dort aber, wo die Menschen arm sind, haben Überschwemmungen, Stürme, Hitze oder Dürren katastrophale Auswirkungen."
Hinter der Aktion steht ein breites ökumenisches Bündnis aus Landeskirchen, Diözesen, Verbänden und Entwicklungsdiensten wie Brot für die Welt und Misereor. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, ist einer der Schirmherren. Die Idee zum Klimapilgern entwickelte sich im Rahmen des "Pilgerweges der Gerechtigkeit und des Friedens“, auf den sich die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Kirchenrates nach der Vollversammlung in Südkorea 2013 begeben haben. Dort ist Pilgern nicht unbedingt wörtlich zu verstehen, sondern steht für "gemeinsam auf dem Weg, auf der Suche sein", so erläutert Sabine Udodesku, die dieses Projekt in der EKD betreut. Es werde verschiedene Aktionen geben, das Klimapilgern sei die erste große. Dass hier tatsächlich gelaufen werde und sich so viele unterschiedliche Gruppen beteiligten, finde sie großartig.
In Deutschland führt der Weg teilweise auf alten Pilgerpfaden durch die sechs Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Die Pilger steuern zwischendurch sogenannte Kraftorte an: Positivbeispiele, wie etwa Gemeindehäuser mit Solaranlagen, Repair-Cafés oder einen Tierpark zur Erhaltung alter Nutztierrassen. Und sie besuchen „Schmerzorte“, wie eine Anlage zur Massentierhaltung oder einen aktiven Braunkohletagebau. Zwischendurch gibt es Andachten, Gesprächsrunden und Workshops.
Koordinatoren vor Ort planen einzelne Etappen. Silke Leng etwa ist für die Strecke von Rendsburg nach Hamburg-Blankenese zuständig, die vom 19. bis 22. September gelaufen wird. Sie hat fünf evangelische und katholische Gemeinden entlang des Weges mit ins Boot geholt. Diese bieten gegen eine kleine Spende Übernachtungsmöglichkeiten an – privat oder im Gemeindehaus, ein warmes Abendessen und Frühstück für die Nachtgäste. Ob die Helfer aber für fünf oder 50 Personen kochen sollen, wissen sie noch nicht.
Zwei Pilger, so sagt Jan Christensen, wollen komplett von Flensburg bis Paris laufen, aber die beiden sind wohl eher die Ausnahme. Die meisten werden nur einzelne Tage oder Wochen pilgern. Um die Planung zu erleichtern, sollten sich Teilnehmer unbedingt vorher anmelden: Auf der Website klimapilgern.de gibt es Informationen zu den Etappen, eine Karte zur geplanten Route und ein Anmeldeformular für die Pilgeraktion. Mehrtagespilger brauchen Schlafsack und Isomatte, sie müssen das aber nicht selbst schleppen: Ein Elektroauto fährt dieses Gepäck von Quartier zu Quartier.
Durchschnittlich 20 Kilometer lang ist eine Tagesstrecke. Auf der Etappe von Silke Leng geht es immer morgens um halb neun mit einem Pilgersegen los, erzählt sie. Alle Kirchen entlang des Weges werden geöffnet sein, dort kann man zwischendurch zur Andacht einkehren und bekommt auch etwas zu trinken. Ab 17 Uhr empfängt einen die Ankunftsgemeinde. An einigen Orten gibt es Abendveranstaltungen: eine Filmvorführung, Diskussionsrunde oder Chormusik zum Mitsingen. Aber das, betont Leng, seien offene Angebote. Wenn jemand ermattet ins Bett fällt oder sich lieber zurück ziehe, könne sie das gut verstehen.
Zwischen Pilgern und Klimaschutz
Überhaupt scheint dies die große Herausforderung in der Vorbereitung zu sein: Wieviel Input, wieviel Programm braucht es wirklich? „Bei uns schlagen sowohl Pilgerherzen als auch Klimaherzen“, sagt Leng. Die einen wollen Ruhe und Kontemplation. Die anderen wollen öffentlich wirksam auf das Thema Klimagerechtigkeit hinweisen. Das sei manchmal eine Gratwanderung, so Leng, aber eines sei klar „Wir sind keine Demonstranten, wir laufen nicht mit Bannern.“
So wird es wohl stille Wandertage geben, aber dazwischen auch große Veranstaltungen wie das Bergfest am 25. Oktober in Wuppertal mit etwa 200 Gästen. Und nach der Ankunft in Paris wird es dann noch mal richtig laut. Am 28. November wollen sich internationale Pilgergruppen, die aus mehreren Himmelsrichtungen zur Klimakonferenz nach Paris gekommen sind, zu einer gemeinsamen Schlusskundgebung treffen. Sie fordern ein gerechtes und verbindliches Klima-Abkommen, mit dessen Hilfe die globale Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius begrenzt wird.
Silke Leng wird wohl nicht dabei sein. Aber sie wird sich weiter dafür einsetzen, dass der CO2-Ausstoß vor ihrer Haustür niedrig bleibt. Sie ist dabei, Lehrer zu überzeugen, mit ihren Schulklassen einen Tag mitzupilgern. Vielleicht werden die Zusammenhänge somit manchem klarer. Sie selbst fährt übrigens schon lange kein Auto mehr, die Bahn tut‘s auch. Es sind kleine Schritte, das weiß sie. Aber genau die zählen.