Herr Bischof, welches Signal sollte vom Stuttgarter Kirchentag ausgehen?
Frank Otfried July: Es soll das Signal ausgehen, dass die Kirchen sich in diese Gesellschaft einbringen und dass sich Christen nicht in Nischen zurückziehen. Wir sind Teil dieser Zivilgesellschaft und reden deshalb mit - in religiösen Fragen, Sozialfragen, Bildungsfragen, Kulturfragen. Und wir treten dem Eindruck entgegen, dass Kirche nur noch eine verschwindende Minorität ist, mit der man sich nicht mehr auseinandersetzen muss.
Drei von vier Baden-Württembergern gehören einer Kirche an. Wie erklären Sie sich, dass Kirche dennoch immer wieder als Auslaufmodell beschrieben wird?
July: Die das behaupten, haben oft relativ wenig Kenntnis vom Leben der Kirche. Gerade in den vergangenen Tagen hatte ich Gespräche mit einem Politiker und mit Menschen auf der Straße, die schlicht nicht wussten, was wir als Kirche in den Bereichen Soziales und Bildung alles tun. Vielleicht sollten wir uns in unserer Öffentlichkeitsarbeit auf zwei oder drei Hauptthemen fokussieren, um mit unserer Arbeit besser ins öffentliche Bewusstsein zu gelangen.
Welche Hauptthemen wären das?
July: Zum einen, dass die Kirche eine einzigartige Botschaft über das Leben und Sterben hat, über Sinn und Ziel des menschlichen Lebens, über die Gnade Gottes. Zum zweiten, dass wir als Kirche für Andere da sind. Wir übersetzen das Evangelium in den sozialen Raum, insbesondere durch die Diakonie. Wir unterstützen Menschen, die keine Lobby haben. Außerdem engagieren wir uns für Bildung im umfassenden Sinn - also auch für die Herzensbildung und die Wertebildung. "Damit wir ein weises Herz erlangen" ist ja Motto des Kirchentages.
Erwarten Sie aufgrund des großen Zulaufs zum Kirchentag Auswirkungen auf den Gemeindealltag?
July: Es gibt viele Menschen, die mit dem herkömmlichen Angebot einer Ortsgemeinde wenig zu tun haben, etwa aufgrund anderer Vorstellungen und Lebensgewohnheiten. Eine erhebliche Zahl von ihnen rechnet sich aber gerade wegen eines Ereignisses wie dem Kirchentag zur evangelischen Kirche. Der Kirchentag stellt eine neue Verknüpfung zwischen Politik, Kultur und Kirche her. Das ist ein Gewinn. Als Erneuerungsbewegung der Ortsgemeinden sehe ich den Kirchentag eher nicht, obwohl es viele Menschen in den Gemeinden gibt, die bewusst von Kirchentag zu Kirchentag leben.
Juden, die an Jesus Christus als ihren Messias glauben, werden erneut vom Markt der Möglichkeiten des Kirchentags ausgeschlossen. Der württembergische Kirchenrat Werner Schmückle hat das als Skandal bezeichnet. Wie sehen Sie das?
July: Halten wir zunächst fest: Erstmals wird bei einem Kirchentag ein theologisch angesehener messianischer Jude aus Großbritannien in einem Forum auftreten und über sein Selbstverständnis sprechen. Diese Gruppe wird also nicht "mundtot" gemacht, wie manche behauptet haben. Ich selbst hätte mit einem Stand auf dem Markt der Möglichkeiten kein Problem, habe aber in verschiedenen Gesprächen wahrgenommen, dass hier das Nervenzentrum des Kirchentags mit seinem Engagement für den christlich-jüdischen Dialog getroffen wäre.
"Nicht gleich als Angriff auf die homosexuelle Identität sehen"
Schließen sich denn Dialog und Mission aus?
July: Grundsätzlich gesagt: Nein! Im jüdisch-christlichen Gespräch ist es noch einmal anders. Gott hat seinen Bund mit seinem erwählten Volk nicht gekündigt. Deshalb wird die Frage diskutiert, ob Juden dezidiert zum Glauben an Jesus Christus eingeladen werden sollen. Das theologische Gespräch der letzten 40 Jahre hat hier neue Einsichten gesetzt. Für mich als Nichtjuden gilt, dass für mich nur der Weg über Jesus Christus zu Gott führt.
Auch der Ausschluss der "Bruderschaft des Weges" - homosexuelle Christen, die aus Glaubensgründen zölibatär leben wollen - vom Markt der Möglichkeiten hat für Unmut gesorgt. Ist es in Ihren Augen Intoleranz, wenn eine solche Gruppe keinen Stand bekommen kann?
July: Grundsätzlich gilt, dass ja auch heterosexuelle Menschen sich für ein zölibatäres Leben entscheiden können. Deshalb darf ich eine solche Lebensentscheidung auch bei einem Homosexuellen nicht gleich als Angriff auf die homosexuelle Identität sehen. Wir werden mit dieser Bruderschaft als Landeskirche - wie mit anderen Kommunitäten auch - ein Gespräch führen.
Die in Württemberg besonders starke pietistische Bewegung hat früher vor dem Kirchentag und dessen Pluralismus gewarnt. Nun mischt sie selbst im Programm mit. Ist das der Beginn einer neuen Ära?
July: Es ist zumindest ein guter Schritt! Von Stuttgart ging beim Kirchentag 1969 im Streit um das richtige Bibelverständnis die Trennung zwischen Pietismus und Kirchentag aus. Es wurde als Gegenveranstaltung der "Gemeindetag unter dem Wort" ins Leben gerufen, später "Christustag" genannt. Vielleicht ist es der Dienst, den die württembergische Landeskirche am deutschen Protestantismus tun kann, Polarisierung und Ausgrenzung zu überwinden und in versöhnter Verschiedenheit zu leben. Ich freue mich, dass in diesem Jahr der "Christustag" mitten im Kirchentag in Stuttgart gefeiert wird und dabei die Abgrenzung nicht mehr im Vordergrund steht. Christus in der Mitte - das ist doch wunderbar.
"Natürlich empfinde ich die konfessionelle Trennung als Schmerz"
Wann ist ein Kirchentag ein erfolgreicher Kirchentag?
July: Wenn in vielen Veranstaltungen die Qualität des Christseins bedacht und in den vielen Begegnungen gelebt wurde. Wenn auch Politiker in Stuttgart nicht nur einen Pflichttermin absolvieren, sondern in diesen Tagen geistlich gestärkt und getröstet werden und sich in ihrer Entscheidungsfindung von guten Argumenten beeinflussen lassen. Und natürlich, wenn die christliche Botschaft in die Gesellschaft ausstrahlt.
Das nächste Highlight im Kalender wird das Reformationsjubiläum 2017 sein. Feiern Sie mit - trotz kritischer Töne aus der Ökumene und trotz Erinnerungen an die dunkle Seite der Reformation?
July: Natürlich empfinde ich die konfessionelle Trennung als Schmerz, ebenso die gegenseitigen Vertreibungen infolge der Reformation. Doch Martin Luther hat das Evangelium neu zum Glänzen gebracht und einen Aufbruch ausgelöst, woraus im Lauf der Geschichte auch die römisch-katholische Kirche Gewinn gezogen hat. Wir dürfen uns also über dieses Jubiläum freuen und es fröhlich feiern, ohne dadurch in einen konfessionalistischen Triumphalismus zu verfallen. Auch hier gilt: Christus in der Mitte der Konfessionen.