Grand Theft Auto 5: Die Kirchen von Los Santos

Foto: Rockstar Games
Über der Welt von GTA 5 kann auch per Fallschirm schweben.
Grand Theft Auto 5: Die Kirchen von Los Santos
Grand Theft Auto 5 ist das erfolgreichste Videospiel aller Zeiten. Mehr als 40 Millionen Exemplare haben sich weltweit verkauft. Die offene Spielwelt von Los Santos zieht ein Millionenpublikum an. Jeder kann sich in der virtuellen Welt austoben, mit schnellen Autos und scharfen Waffen auf der schiefen Bahn. Unser Autor David Gern hat sich als Tourist in diese Welt begeben - um die sechs Kirchen von Los Santos und Umgebung zu besuchen.

Die Kirche ist verschlossen. Und auch alle weiteren Kirchentüren, vor denen ich in den nächsten Stunden stehe, öffnen sich mir nicht. Das ist die erste, etwas ernüchternde Erkenntnis meines Rundtrips zu den Kirchen von Los Santos, der gigantischen Videospielwelt von Grand Theft Auto 5.

Zu der kleinen Kirche der evangelikalen "Children of the Mountain"-Vereinigung hatte ich es nicht weit. Der unauffällige, gedrungene Bau liegt direkt gegenüber meines Zuhauses. Es ist kein sehr gutes Viertel hier. Die Vorgärten sind voller Müll und die Bürgersteige voller Tagediebe, also Leuten wie mir.

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Ich trete hinaus auf die Straße und bringe einen langsam fahrenden Kombi zum stehen bleiben. Noch bevor der Fahrer protestieren kann, zerre ich ihn auf die Straße, setze mich selbst hinters Steuer. Schreiender Mann, quietschende Reifen und weg bin ich.

Ich habe mir vorgenommen, alle Kirchen von Los Santos zu besuchen. Los Santos ist eine Stadt, die nur in dem Videospiel Grand Theft Auto V (GTA 5) existiert. Dennoch dürfte sie in letzter Zeit mehr Besucher verzeichnet haben als viele reale Städte. Denn GTA ist überaus erfolgreich. Wenn ein ein neues Spiel der Reihe erscheint, dann ist das ungefähr so, als würden gleichzeitig Titanic und Star Wars ins Kino kommen. Alleine GTA 5 hat sich bis jetzt mehr als 40 Millionen Mal verkauft - im September 2013 war die erste Konsolen-Version erschienen, im November 2014 die Version für Xbox One und Playstation 4. Und die PC-Verison kommt noch. GTA 5 steht mit mehreren Rekorden im Guinness-Buch.

Eine Taste für "zuschlagen", aber keine für "reden"

Mein Plan, alle Kirche von Los Santos aufzusuchen, hat vor allem mit der St. Stephens Church in Edinburgh zu tun, und mit Leslie Benzies. Benzies ist einer der drei führenden Köpfe von Rockstar Games, dem Entwicklerstudio von GTA. Im Sommer 2014 kaufte er die St. Stephens Church, um sie für die Öffentlichkeit zu erhalten – die Pläne anderer Interessenten hatten private Luxuswohnungen vorgesehen. Benzies erklärte, die Kirche habe für die Gemeinde seiner Heimatstadt eine hohe Bedeutung.

Als ich davon hörte, fragte ich mich, welche Bedeutung die Kirchen wohl in GTA 5 haben – in einen Spiel, in dem es eigentlich überhaupt nicht um Kirchen geht. Auch wenn das Spiel immerhin in unmittelbarer Nähe einer Kirche beginnt. Auf einem Friedhof, um genau zu sein.

Nach einem kurzen Prolog erlebt der Spieler die – vorgetäuschte – Beerdigung einer der Protagonisten. "Er war nicht immer ein guter Ehemann", verkündet der Priester den wenigen Trauernden, "er war nicht immer ein guter Bürger. Er ist keinen Heldentod gestorben. Aber er war ein Mensch. Unser Herr ist mit zwei Dieben gekreuzigt worden. Und vielleicht sollten wir deswegen nicht richten. Wir werden in Sünde geboren, wir sterben in Sünde."

Das ist ein durchaus bemerkenswerter Anfang für ein Videospiel, in der es zwar eine Taste für "zuschlagen", aber keine für "reden" gibt. In GTA 5 wird vor dem Spieler eine für Videospiel-Verhältnisse riesige Stadt ausgebreitet, in der er sich nach Herzenslust austoben kann. Von Golf spielen über Fallschirmspringen bis zum Kino- oder Friseurbesuch ist alles möglich, im ironisch-ultrabrutalen Universum von GTA 5 heißt "austoben" aber vor allem: Mit einem geklauten Auto durch die Stadt zu rasen, andere Verkehrsteilnehmer zu rammen, Schießereien mit Polizei und Straßengangs anzuzetteln, Passanten verprügeln und so weiter.

Eine klassische Storyline gibt es natürlich auch. Die ist auch nicht eben zimperlich, aber hervorragend geschrieben, und zwar im Stil moderner amerikanischer Serien. Sie dreht sich um Gangster, Midlife-Crisis und das nächste große Ding, doch im Überfluss der Möglichkeiten geht sie fast ein bisschen unter. Der eigentliche Reiz des Spiels ist, das zu tun, wonach einem gerade ist. Und zwar ohne Konsequenzen. Das Spiel straft und es urteilt nicht. Um es mit den Worten des Priester zu sagen: Hier wird in Sünde gelebt und gestorben – wir sind alle nur Menschen.

Im Kirchgarten Gedanken nachhängen

Die zweite Kirche auf meiner Tour ist die Rockford Hill Church. Sie befindet sich im betuchten Stadtteil "Vinewood Hills". Schon von weitem sticht ihre am spanischen Kolonialstil angelehnte  Architektur aus dem von Funktionsbauten dominierten Stadtbild heraus. Sie ist ein ziemlich genaues Abbild der "Church of Good Sheperd" in Beverly Hills. Stars wie Elizabeth Taylor und Mark Wahlberg haben dort geheiratet. Alfred Hitchcock, Frank Sinatra und viele mehr wurden dort beerdigt. Außerdem war sie Schauplatz der Beerdigungsszene in "Ein neuer Stern am Himmel" mit Judy Garland. Täglich zieht sie zahllose Touristen an.

Die Schönheit von Grand Theft Auto 5.

Hier dagegen gibt außer mir keinen einzigen Besucher. Auf der Rückseite der Kirche entdecke ich den Eingang zu einem von Bogengängen gesäumten Innenhof, in dessen Mitte ein kleiner Springbrunnen vor sich hin plätschert. Drumherum stehen Bänke für die Ruhe suchenden. Komplettiert wird das Idyll durch einige Büsche. Ich bilde mir ein, diesen versteckten Ort als einziger entdeckt zu haben und bleibe, bis die Dämmerung einsetzt. Mit einem Mal gehen im Inneren der Kirche die Lichter an und ihre vormals grauen Fenster leuchten nun in allen Farben.

Als ich mich schließlich doch losreißen kann, muss ich feststellen, dass mein Auto verschwunden ist. Ich besorge mir auf die bewährte Methode ein neues. "Grand Theft Auto" heißt nicht umsonst "Autodiebstahl". Diesmal wehrt sich der Fahrer, was sich als schlechte Idee herausstellt. Als er regungslos am Boden liegt, mache ich mich auf zu meiner nächsten Station.

Die Hill Valley Church ist vor allem wegen ihres großen, schön angelegten Friedhofs interessant, über den ich jetzt im letzten Licht des Tages spaziere. Anders als zuvor gebe ich mich nicht der Illusion hin, der Entdecker dieses Orts zu sein, sondern frage mich, wie viele Spieler schon vor mir hier standen und ihren Gedanken nachgingen. Wie viele es wohl gerade tun? In den anderen Versionen dieser Stadt, die in anderen Wohnzimmern irgendwo auf der Welt existieren?

Kirchen als Orte des Nichts-Erlebens

Auf einem der Gräber steht: "Still hier, oder?". Und ja, es stimmt. Nach den ganzen Schießereien, dem Blut auf dem Asphalt, den Kopfschüssen und den Überfällen ist es an den Kirchen von Los Santos vor allem eines: Still. Im absoluten Erlebnisraum von GTA 5 sind die Kirchen Orte des Nichts-Erlebens, und schon allein deswegen sind sie auch wieder ein Erlebnis.

Immer wieder gab es Versuche, Ereignislosigkeit als Element in Videospiele einzuführen. Populärstes Beispiel ist "Shadow of the Colossus", in dem der Spieler wiederholt durch eine so malerische wie leere Landschaft zu reiten hatte. Es gab weder Gefahren, noch Herausforderungen oder auch nur sonst irgendetwas zu tun. Das schuf Zeit für eigene Gedanken. Die anschließenden Schlachten wirkten dafür umso wuchtiger. Die Spieler schätzten das: Shadow of the Colossus gilt heute unangefochten als Klassiker. War dort die Ereignislosigkeit zentrales Spielelement, bleibt es in GTA 5 jedem Spieler selbst überlassen, diese zu suchen.

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Ich breche einen neben dem Friedhof geparkten Leichenwagen auf und fahre – inklusive Sarg im Laderaum –  in Richtung Innenstadt, zur Little Seoul Church. Sie stellt sich als die kathedralenartigste und damit auch die am europäischsten anmutende der Kirchen von Los Santos heraus. Ihr aufdringlicher Neo-Romantizismus überschreitet fraglos die Grenze zum Kitsch. Dass die größte und pompöseste Kirche gerade hier, in Little Seoul steht, also dem von Koreanern geprägten Stadtteil, ist kein Wunder: In kaum einem Land missionieren Christen so aggressiv wie in Korea. Die koreanischen Mega-Kirchen erleben dementsprechend einen enormen Zulauf.

Am nächsten Morgen fahre ich ins Umland der Stadt, wo sich noch zwei weitere Kirchen befinden sollen. Während Weinberge an mir vorbeiziehen, läuft im Radio Werbung für "Epsilon Program", eine an Scientology erinnernde Sekte. Sie ist die auffälligste religiöse Gruppierung in Los Santos. Schon vor Veröffentlichung des Spiels ging ihre Website online, die inzwischen wieder abgeschaltet ist. Der vornehmliche Glaubensinhalt des "Epsilon Progamm" scheint das Überweisen großer Geldmengen auf das Konto der Sekte zu sein.

Ansonsten sieht es, was religiöse Vielfalt angeht, mau aus in Los Santos: Außer ein paar spazierenden Rabbis finde ich keine Hinweise auf andere Religionen. Übrigens: Von den sechs Kirchen des Spiels sind vier katholisch und zwei evangelikal.

Mit der Ruhe ist es vorbei

Als ich am Gotteshaus von Great Chaparell ankomme, springt eine Frau im Brautkleid zu mir ins Auto und bittet mich, ihr bei der Flucht vor ihrer eigenen Hochzeit zu helfen. Ich willige ein. Auf der Fahrt zu ihrem Haus lässt sie sich so ausgiebig über ihren anscheinend schrecklichen Bräutigam aus, dass ich mich frage, warum sie es hat überhaupt soweit kommen lassen. Natürlich lauert uns eben jener Bräutigam irgendwann auf. Doch als ich die Waffe weg stecke, zeigt sie sich nicht dankbar. Sie schreit, ich sei noch verrückter als ihr – nun toter – Ex-Verlobter und rennt davon.

Da mir die Kirche in Great Chaparell so wenig Glück gebracht hat, mache ich mich auf zum letzten Teil meiner Reise, ins Küstenstädtchen Paleto Bay. Inzwischen sitze ich in einem flotten Jeep, der gut zu den engen Bergstraßen passt, über die ich jetzt fahre. Aber dann übertreibe ich es mit der Geschwindigkeit. Der Geländewagen kommt von der Straße ab, stürzt eine Böschung hinunter, schlägt mit hoher Geschwindigkeit auf einem Waldweg auf und beginnt sich zu überschlagen. So überrollt er ein Schwein und beinahe zwei Wanderer, fliegt über einen weiteren Hügelkamm und wird erst viele hundert Meter weiter von einer Baumgruppe unsanft gebremst. Verletzt verlasse ich das Wrack, laufe zur nächsten Landstraße, wo mich zu meinem Unglück aber ein Kleinwagen übersieht. Bevor ich wieder aufstehen kann, überfährt mich ein LKW.

Das Krankenhaus, vor dem ich zu mir komme, liegt praktischerweise ganz in der Nähe der St. Brigid Baptist Church, der letzen Kirche auf meiner Liste. Auf dem kurzen Fußweg stelle ich fest, dass von meinem Unfall nicht mehr als eine Schramme über dem Auge zurück geblieben ist. Die St. Brigid Baptist Church ist eine amerikanische Provinzkirche, die auch als Filmkulisse dienen könnte. Ein Schild verspricht: "Putting the fun back into fundamentalist Christianity" – hier soll christlicher Fundamentalismus wieder Spaß machen.

Ich warte ein wenig und stelle mich darauf ein, dass sich die schon zuvor genossene Ruhe wieder in mir ausbreitet. Doch dann ist es mit der Ruhe sofort vorbei: Hinter der Kirche kommt allen Ernstes ein Kerl mit einem Laubbläser hervor und macht sich daran, die Grünanlage lautstark zu bearbeiten. Ich schlage ihm erst das Gerät aus der Hand und ihm dann eine rein. Ich kann nicht anders. Wir sind alle nur Menschen.