Zehn Waisenkinder, zwei Frauen mittleren Alters und der evangelische Pfarrer Gustav Werner (1809-1887) treffen am 14. Februar 1840 in Reutlingen am Fuß der Schwäbischen Alb ein. Auf einem Leiterwagen stapelt sich der gesamte Besitz der kleinen Schar, die in der ehemals freien Reichsstadt einen Neuanfang wagen will: eine christliche Lebensgemeinschaft, in der sozial Schwache Heimat, Hilfe und Heil finden. Aus diesem zaghaften Anfang vor 175 Jahren geht später die BruderhausDiakonie hervor, die heute einer der größten Sozialdienstleister Baden-Württembergs ist.
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Aufgemacht hat sich der seltsame Zug vom wenige Kilometer entfernten Walddorf. Werner hat dort nach einigem Ringen seine Pfarrstelle aufgegeben, er will sich ganz den Bedürftigen widmen. Ein riskanter Plan: Zeitlebens hat er mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen.
Was praktisches Christentum bedeutet, kann Werner schon in Walddorf beweisen. Als eine Mutter von sechs Kindern stirbt, nimmt der noch Unverheiratete eines der Kinder auf. Kurz darauf gründet er eine "Kinderrettungsanstalt" für weitere Waisenkinder. Sein Leitspruch: "Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert!"
Der charismatische Theologe lockt in Reutlingen schnell viele Unterstützer an, vor allem junge Bürgerstöchter, die bereit sind, unentgeltlich das Werk der Barmherzigkeit zu fördern. Im Jahr 1841 heiratet Werner die Kaufmannstochter Albertine Zwißler. Die Ehe gibt allerdings bis heute Rätsel auf. Sie scheint mehr dem Ziel zu dienen, angenommenen Kindern einen "ordentlichen" rechtlichen Hintergrund zu bieten. Eigene Nachkommen haben die Werners nicht.
1851 endgültig aus dem Pfarramt entlassen
Zehn Jahre nach seinem Start in Reutlingen tritt das "Bruderhaus", wie es bald genannt wird, in die Phase der Industrialisierung. 1850 wird eine Papierfabrik erworben, ihr folgen "Mechanische Werkstätten" und Fabriken. Bis 1862 hat sich das Werk zu einem kleinen Konzern mit 24 Zweiganstalten entwickelt, in denen 437 Kinder und 216 Menschen mit Behinderungen leben, die von 227 Hausgenossen und 866 Mitarbeitern betreut werden.
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Junge Waisen werden nach Kräften in der Bildung unterstützt. Eine von ihnen ist der spätere Motorenkonstrukteur Wilhelm Maybach (1846-1929), der schon früh Vater und Mutter verloren hat und 1856 im Bruderhaus aufgenommen wird. Er erhält eine Ausbildung zum technischen Zeichner. Von 1865 bis 1869 leitet dann ein gewisser Gottlieb Daimler die "Mechanische Werkstätte" des diakonischen Betriebs in Reutlingen. Die beiden lernen sich dort kennen und werden später zu einem Team, das die Entwicklung von Verbrennungsmotoren und Automobilen entscheidend vorantreibt.
Gustav Werner hat Sendungsbewusstsein. Er zieht umher, um sein Verständnis des christlichen Auftrags zu verkünden und um Spender zu gewinnen. Neider, Hüter der reinen Lehre, fromme Pietisten weisen auf Eigenwilligkeiten in Werners Theologie hin. Sie schwärzen ihn bei der Kirchenleitung so lange an, bis er 1851 endgültig aus dem Pfarramt entlassen wird, worüber er tief bestürzt ist.
Reutlingens "bester Bürger"
Seinen Dienst setzt er dennoch unbeirrt fort. Werners Ansatz: Benachteiligte sollen nicht nur versorgt werden, sondern nach ihren Möglichkeiten etwas leisten. So entsteht 1882 die "Kartonagen- und Tütenfabrikation" für Behinderte, der Prototyp moderner Werkstätten für behinderte Menschen.
Die BruderhausDiakonie heute sieht sich als christliches Werk, das Teilhabe möglich macht, für alte wie junge Menschen, für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Sie unterhält 120 Einrichtungen in Baden-Württemberg.
Gustav Werner stirbt am 2. August 1887. Seinem Trauerzug folgen fast 2.000 Menschen. Der Oberbürgermeister nennt ihn Reutlingens "besten Bürger". Internet