Als Niki Stein vor einigen Jahren seinen bewegenden Film über Scientology drehte, gab es den beiläufigen Einwand, die Sekte spiele heute längst nicht mehr so eine große Rolle wie noch vor zwanzig Jahren. "Am Kreuzweg" ist zwar ein Drama über den zölibatären Zwiespalt katholischer Priester, doch es gibt verblüffende Parallelen: Zumindest im Film trägt auch der Klerus mit seinen starren Regeln und dem strikten Gehorsamsgebot sektiererische Züge. Gemeinsam mit der unzweifelhaften Haltung, die Autorin Rodica Döhnert und Regisseur Uwe Janson zum Keuschheitsgelübde beziehen, ist der Film eine in dieser Form selten klare Kirchenkritik.
Keineswegs plumpe Fleischeslust
Verstärkt wird diese eindeutige Position durch die Besetzung der Hauptfigur. Harald Krassnitzer, gerade im "Ersten" dank der Serie "Der Winzerkönig" und natürlich seine Rolle als österreichischer "Tatort"-Kommissar Moritz Eisner ohnehin Sympathieträger und Identifikationsfigur, verkörpert den Priester Conrad Feninger als moralische Instanz, deren Motive aller Ehren wert sind: Es ist keineswegs die plumpe Fleischeslust, die ihn gegen sein Gelübde verstoßen ließ, sondern eine tiefe und innige Liebe zur Ärztin Karin Wagner (Karoline Eichhorn). Die Beziehung währt nicht bloß bereits seit zwanzig Jahren, sie hat auch zu einem Sohn und einer Tochter geführt. Obwohl Feninger als Freund der Familie bei den Wagners ein und aus geht, haben beide Kinder keine Ahnung, wer ihr Vater ist. An den Tag kommt die verbotene Liebe, als der zwanzig Jahre alte Georg (Christopher Reinhardt) seine Mutter mit einem aus ihrer Sicht völlig abwegigen Berufswunsch überrascht: Er will Priester werden. Als die Eltern dem jungen Mann die Wahrheit über seinen Vater offenbaren, fällt er verständlicherweise aus allen Wolken.
Geschickt verteilt Autorin Döhnert die Dramatik der Geschichte auf zwei Ebenen: hier die ständige Geheimniskrämerei, die zwar jetzt ein Ende hat, aber nun für Feninger in einen nicht minder demütigenden Spießrutenlauf ausartet; dort der Kampf einer Mutter um das Vertrauen ihres Sohnes, gepaart mit der Angst, auch Georg an die Kirche zu verlieren.
Janson, dem seit einigen Jahren der imposante Spagat zwischen aufwändigen Großproduktionen ("Vulkan") und mit wenig Geld verfilmten Klassikern ("Lulu", "Werther") gelingt, verzichtet konsequent darauf, die Geschichte zusätzlich und unnötig zu dramatisieren. Feningers Konflikt ist Drama genug, zumal der Priester nicht nur gegen die durch seinen Bischof (Jürgen Heinrich) repräsentierten Jahrhunderte alten Normen antritt, sondern auch die unerfreulichen Reaktionen seiner Gemeindemitglieder aushalten muss. Außerdem hat sich Töchterchen Marie eingekapselt: Weil sie das Geheimnis auf keinen Fall verraten sollte, ist sie in stumme Starrheit verfallen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Abgesehen von wenigen Momenten, in denen die Schauspieler Intensität mit Lautstärke verwechseln, lebt der Film vor allem vom Spiel der drei Hauptdarsteller, die der erfahrene Regisseur zu ausgezeichneten Leistungen führt. Großen Anteil daran hat auch die Bildgestaltung durch Kameramann Philipp Sichler, dem zudem gerade in den Kirchenszenen eindrucksvolle Aufnahmen gelingen. Wichtige Nebenfiguren, etwa ein guter Freund (Oliver Breite) Feningers oder die junge Luna (Nadja Bobyleva), die großen Gefallen an Georg hat, verleihen der Geschichte zusätzliche Komplexität. Dennoch ist die Aussage des Films klar: Der im Neuen Testament ohnehin nirgendwo geforderte und als kirchliches Gesetz erst im 12. Jahrhundert eingeführte Zölibat ist ein Relikt aus dem Mittelalter.