Frau Müller, warum sind Sie eigentlich Pfarrerin geworden?
Christiane Müller: Weil es ein toller Beruf ist. Beziehungsweise sein könnte. Es ist wahnsinnig spannend, mit Menschen in unterschiedlichsten Lebenssituationen zu tun zu haben. Man kann kreativ sein. Ziemlich selbständig arbeiten. Und seine eigenen Gaben und Fähigkeiten einbringen. Deshalb habe ich mich dafür entschieden.
Wo ist dann der Haken?
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Müller: Das Unangenehme und Belastende sind oft die äußeren Umstände. Natürlich ist es eine feine Sache, in einem schönen Pfarrhaus zu wohnen. Doch wenn es wie hier direkt neben dem Gemeindezentrum liegt, dann ist man in einer ständigen inneren Alarmbereitschaft. Man bekommt alles mit und kann nur schwer abschalten. Aber Umziehen ist nicht erlaubt, wegen der Residenzpflicht.
Was bedeutet "Residenzpflicht"? Dieses Wort hört man ja häufig im Zusammenhang mit Asylverfahren.
Müller: Das ist auch der einzige Kontext außerhalb der Kirche, in dem es überhaupt noch existiert. Als Gemeindepfarrer ist man verpflichtet, im Pfarrhaus zu leben. Man darf sich nicht einfach drei Straßen weiter niederlassen. Nur selten werden Ausnahmen gemacht, die extra begründet werden müssen.
Sie sind alleinstehend. Wie sähe es aus, wenn ein Lebenspartner zu Ihnen ins Pfarrhaus ziehen möchte?
Müller: Das müsste ich mit dem Kirchenvorstand absprechen und genehmigen lassen. So ein Leben auf dem Präsentierteller des Pfarrhauses kann aber ein richtiger Beziehungskiller sein! In jungen Jahren wächst man da vielleicht gemeinsam hinein. Wenn man sich erst im reiferen Alter findet, dürfte das schwierig werden.
"Es ist kaum zu schaffen"
Was für problematische Punkte gibt es noch im Leben als Pfarrerin?
Müller: Die Präsenzpflicht. Pfarrerinnen und Pfarrer müssen sich stets in ihrem Gemeindegebiet aufhalten oder dieses rasch erreichen können. Auch in der Freizeit muss die Erreichbarkeit gewährleistet sein. Wenn ich nun an meinem freien Tag eine Freundin in Nürnberg besuchen will und bereits am Abend vorher hinfahren möchte, brauche ich für die Nacht und den freien Tag eine Vertretung vor Ort. Außerdem muss ich mich schriftlich beim Dekanat abmelden.
Das klingt nach starker Kontrolle und weitgehend unregulierter Arbeitszeit.
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Müller: So ist es leider auch. Es gibt keine verbindliche Arbeitszeitregelung für Pfarrer. Bei der Frage, wie eine halbe Stelle zu definieren ist, hat man in der bayerischen Landeskirche das erste Mal darüber nachgedacht und dafür 27 Wochenstunden festgelegt. Was dann für eine volle Stelle 54 Wochenstunden ergibt. Sechs Arbeitstage mit je neun Stunden, und ein freier Tag pro Woche. Dauerhaft. Laut deutschem Arbeitszeitgesetz wäre dies maximal kurzfristig erlaubt. Nur zum Vergleich: die Arbeitszeit für bayerische Beamte beträgt 40 Wochenstunden.
Kann man das überhaupt bewältigen?
Müller: Es ist kaum zu schaffen. Ich habe oft ein schlechtes Gewissen. Dazu kommt der Erwartungsdruck, der durch die vielen unterschiedlichen Rollen entsteht, die man ausfüllen muss. Ich bin beispielsweise morgens drei Stunden lang Religionslehrerin. Danach muss ich eventuellen Schul-Ärger schnell hinunterschlucken, um zwei Beerdigungen halten zu können. Dann sind da ein paar Jubilare, die beleidigt wären, wenn sie an ihrem Geburtstag nicht besucht würden. Vielleicht ist abends irgendeine Sitzung. Und der Konfirmandenunterricht für den nächsten Tag muss vorbereitet werden. Dazu kommen noch Dinge, für die ich als Pfarrerin gar nicht ausgebildet bin: Verwaltung, Finanzen … Manchmal ist es einfach zu viel. Es ist ein Beruf, den man nie ablegen kann, auch nicht im Privatleben.
Residenzpflicht, Präsenzpflicht, Sechs-Tage-Woche – ist das alles überhaupt rechtlich zulässig?
Müller: Diese Frage hat eine Mitvikarin im Predigerseminar mal gestellt. Der Dozent hat geantwortet, dass die Kirche eben eine eigene Gesetzgebung hat und sogar manche Menschenrechte dadurch außer Kraft gesetzt werden. Die freie Wahl des Aufenthaltsortes wird beispielsweise durch die Residenzpflicht ausgehebelt. Man könnte nun sagen, ich wusste also, worauf ich mich einließ. Das war aber nicht so. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es wirklich so schwierig wird.
"Ich wage den Weg in die Freiberuflichkeit"
Sie lassen sich jetzt erst einmal beurlauben. Wie geht es beruflich für Sie weiter?
Müller: Ich verlasse die Sicherheit der Institution und wage den Weg in die Freiberuflichkeit. Nach meinem Heilpraktikerexamen für Psychotherapie werde ich als Gesprächstherapeutin arbeiten. Außerdem schreibe ich einen Roman, ein Verlag interessiert sich bereits dafür. Ich werde ehrenamtlich Gottesdienste halten. Meinen Glauben habe ich ja nicht verloren. Zusätzlich würde ich gerne freie Kasualien gegen Honorar anbieten. Aber ich fürchte, damit wird die Kirchenleitung nicht einverstanden sein …
Warum? Von der Kirche bekommen Sie doch dann kein Geld mehr?
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Müller: Trotzdem ist vorgeschrieben, dass ich mir Nebentätigkeiten auch während der Beurlaubung genehmigen lassen muss. Faktisch heißt dies, dass die Kirche mitbestimmen darf, womit ich in dieser Zeit meinen Lebensunterhalt verdiene. Das ist bei Staatsbeamten übrigens genauso, aber das macht die Sache nicht besser.
Wie sind die Reaktionen auf Ihren Entschluss?
Müller: Sehr unterschiedlich. In der Gemeinde wie unter Kollegen. Manche können es nicht nachvollziehen. Andere haben volles Verständnis und wünschen mir Glück. Einige Kolleginnen und Kollegen haben mir anvertraut, dass sie am liebsten auch diesen Schritt gehen würden. Sie können es aber nicht, zum Beispiel weil sie kleine Kinder haben. Viele spüren den Druck. Allein in meinem Bekanntenkreis gibt es sieben Burn-out-Fälle. Mich würde mal interessieren, was eine anonyme Befragung von Pfarrerinnen und Pfarrern für Ergebnisse liefern würde. Wieviele würden wohl den Pfarrberuf verlassen, wenn es eine vernünftige Alternative gäbe?
Was müsste sich ändern? Wie ließe sich dieser Beruf reformieren?
Müller: In vielen Ländern haben Pfarrerinnen und Pfarrer eine ganz normale 40-Stunden-Woche. Notfälle und Bereitschaftsdienste sind klar geregelt. Es gibt nicht mehr den klassischen Gemeindepfarrer, sondern mehrere auf bestimmte Bereiche spezialisierte Leute. Meine drei bevorzugten Schwerpunkte wären da Gottesdienst, Konfirmandenarbeit und Kasualien. Für die sonstigen Aufgaben wären dann andere zuständig. Und niemand wäre insgesamt überfordert oder mit einer Rolle belastet, die ihm überhaupt nicht liegt. "Ein Pfarrer muss immer erreichbar sein", dieser Anspruch ist einfach nicht mehr erfüllbar. Er stammt aus einem vorindustriellen, längst veralteten Gesellschaftsbild. Ich korrigiere: EIN Pfarrer muss immer erreichbar sein. Und die anderen haben derweil ein ungestörtes Privatleben.