Herr Claussen, Sie haben die Geschichte der Kirchenmusik neu erzählt. Auch wenn der Fokus auf Deutschland liegt, noch unglaublich viel Stoff – wie geht das?
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Johann Hinrich Claussen: Natürlich kann man 2000 Jahre Kirchenmusikgeschichte nicht vollständig erzählen. Aber Vollständigkeit ist sowieso der Tod des Erzählens. Hier muss man mutig – oder soll ich sagen: frech? – auswählen, sich auf wenige treffende Beispiele beschränken und anderes weglassen. Und all die, die mehr wissen wollen, muss man auf die Lexika oder Wikipedia verweisen.
Dann springen wir doch mal ins Mittelalter: Hier haben Sie die Patronin der Kirchenmusik Cäcilie – in der Kunst gerne mit Handorgel dargestellt – als falsche Besetzung entlarvt. Wie kam es dazu?
Claussen: Die heilige Cäcilie ist die Patronin der Kirchenmusik. Dazu wurde die Heilige jedenfalls im Mittelalter gemacht. Eigentlich war die heilige Cäcilie alles andere als eine Musikfreundin: sie war eher eine Musikfeindin. Sie lebte als asketische junge Dame im alten Rom. Als sie sich Christus zuwandte, war es vorbei mit allen weltlichen Genüssen, der Liebe wie der Musik. Erst durch einen Übersetzungsfehler im Mittelalter glaubte man, dass sie die Musik vielleicht doch geliebt hat. Dann wurde sie sofort vereinnahmt, von den Spielleuten, den Organisten und Kirchenmusikern – und seitdem gibt es sie als die große Heilige der Kirchenmusik.
Das spricht nicht gerade für die Kirchenmusik oder?
Claussen: Auch wenn es Übersetzungsfehler und vielleicht sogar Manipulation gegeben hat, gibt es einen tieferen Hintersinn. Denn die Geschichte von Cäcilie steht beispielhaft dafür, dass die Musik in der Kirche ihr bleibendes Heimatrecht erstritten hat. Das ist für die Kirche gut, weil sie sich dadurch öffnet für die allgemeine Kultur und nicht so ein geschlossener, asketischer Leidensverein ist. Aber für die Musik war es auch wichtig, weil sie nicht als etwas Weltliches, Minderwertiges gesehen wird, sondern eben als eine andere Art der Verkündigung, der Theologie zumindest fast gleich geartet ist.
"Sister Rosetta Tharpe steckt die Rolling Stones mal eben locker in die Tasche"
Was war für Sie das Markanteste in der Kirchenmusik?
Claussen: Für mich war erst mal wichtig, was für die musikalische Entwicklung von Bedeutung war. Nämlich die Erfindung und Entwicklung von Mehrstimmigkeit und Notenschrift. Das ist im Detail total kompliziert und auch schwer nachzuvollziehen. Aber durch die Notenschrift veränderte sich ja die Musik komplett. Sie war nicht mehr etwas, was man von Ohr zu Mund weitergibt, sondern was richtig gelesen wurde – das ermöglichte auch eine völlig neue Art zu komponieren.
Die Musik wurde komplexer.
Claussen: Ja, die Mehrstimmigkeit ist auch total wichtig in Neuzeit, weil damit auch die Musik ein Eigenleben entwickelte, nicht nur als Vertonung von Texten. Das schafft Konflikte, weil die Theologen dann sagen: Ach das ist ja ein bisschen viel Virtuosenkram – zugleich aber die Musiker sagen: Nein, dann hat die Musik als Kunst ihr Eigenrecht. Komplizierte Vorgänge, die aber superinteressant waren, weil sie nochmal zeigten, dass sich auch durch technische Veränderung alles nochmal neu definiert und die Musik eine ganz eigene Wertigkeit bekommt.
Sie schreiben, dass die Reformation anders verlaufen wäre ohne die Singbewegung bei Luther. Das Lied "Eine feste Burg ist unser Gott" war einst ein Gassenhauer, so richtig kann man sich das heute nicht vorstellen.
Claussen: Die ersten Lieder der Reformation waren anders als die Kirchenlieder, die wir heute kennen, selbst wenn es dieselben Texte und Noten waren. Sie waren Teil der Reformation und einer richtig massiven Bürgerbewegung. Viele dieser Lieder wurden zuerst in den Straßen, auf den Marktplätzen, in den Gasthäusern gesungen und verbreitet und noch gar nicht in den Kirchen. Diese großen lutherischen Choräle entwickelten sich ja erst relativ spät zu Kirchenliedern. Zunächst waren es einfach Lieder von Menschen, die sich in den großen Städten und Dörfern für die Reformation begeistert haben. Mit Luther-Liedern wurde der ein oder andere altgläubige Prediger auf der Kanzel regelrecht niedergesungen.
Mit Sieben-Meilenstiefeln eilen Sie durch die Musikgeschichte – von Buxtehude zu Bach, von Händel zu Mendelssohn, um einige zu nennen. Die Geschichte des Requiems – alles spannend zu lesen. Schließlich entdecken Sie verschüttete Schätze der Gospelmusik. Beispielsweise die Gospelsängerin Sister Rosetta Tharpe.
Claussen: Ich finde, Gospel und Spiritual, beides muss man tatsächlich noch mal richtig neu entdecken. Wenn man das liest, sollte man immer die Namen und die Titel im Computer bei Youtube eingeben – da gibt es ganz tolle Originalaufnahmen. Und gerade Sister Rosetta Tharpe – eine ganz bitterarme pfingstlerische Erweckungsmissionarin – sie entwickelt sich zu einer großen Musikerin, die soviel rockige Kraft hat, dass sie die Rolling Stones mal eben locker in die Tasche steckt.
Allerdings beklagen sie auch die Kommerzialisierung des Gospel in der Neuzeit – mit kleinem Seitenhieb auf Sister Act. Wohin steuert denn die Kirchenmusik im 21. Jahrhundert?
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Claussen: In die Zukunft kann niemand gucken, ich auch nicht. Zum einen haben wir eben viel überlieferte Musik, wo wir her kommen. Das zu pflegen, ist schon mal ganz wichtig. Aber natürlich gilt es, Musik weiterzuschreiben. Es gibt immer noch eine große christliche Singbewegung. Immer wieder kommt ein Lied, das sich als haltbar erweist, das den nächsten Kirchentag überlebt. Das ist sehr stark in Bewegung. Beispielsweise dieser Song: Du bist heilig, du bist heilig. Aber da kann man immer noch nicht sehen, was in zehn Jahren gesungen wird. Das meiste wird wahrscheinlich auch schon zersungen sein.
Und die konzertante ernste Musik?
Claussen: Ein schwierige Frage, ob auch anspruchsvolle Kunstmusik in der Kirche weitergepflegt wird und überlebt. Oder ob das so ist wie mit der neuen Musik: Das ist etwas für eine ganz kleine Minderheit, was schade wäre. Einige der anspruchsvollen Komponisten haben sich aber bereits durchgesetzt, darunter die geistliche Musik von Arvo Pärt. Ich sehe da schon eine ganze Reihe von avancierten Komponisten.