Berlin Checkpoint Charlie, 13. September 1964, kurz nach 19 Uhr: Ein Auto mit amerikanischem Kennzeichen nähert sich der Schranke. Die DDR-Grenzer staunen: Im Wagen sitzt ein dunkelhäutiger Mann, er will unangekündigt in die Hauptstadt der DDR reisen. Nicht mal seinen Pass hat der US-Amerikaner für seine Einreise ins sozialistische Ost-Berlin dabei. Diese Szene hat sich vor 50 Jahren an der Berliner Mauer zugetragen. Heute lässt sie sich in zahlreichen Dokumenten - von Stasi-Akten bis zu Zeitzeugenberichten - nachlesen.
Weiter ist bekannt, dass den DDR-Grenzern schnell klar wurde: Vor ihnen sitzt der US-Bürgerrechtler Martin Luther King, Ikone von Millionen von Afroamerikanern. Beim "Marsch auf Washington" gegen die Rassentrennung hatte sich der schwarze Baptistenprediger mit seiner berühmte Rede "I have a dream" (Ich habe einen Traum) im August 1963 ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Das US-Magazin "Time" kürte ihn danach zum "Mann des Jahres 1964".
Einreise mit der Kreditkarte
Auch das DDR-Regime sympathisierte mit dem Pfarrer, solange er sich als "Kämpfer gegen den Kapitalismus" vor den eigenen Karren spannen ließ. Mitten im Kalten Krieg - vom 12. bis 14. September 1964 - besuchte King auf Einladung des damaligen Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt (SPD) den Westteil der geteilten Stadt. Nach US-Präsident John F. Kennedy galt King damals als berühmtester Berlin-Besucher.
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Doch trotz dieser Popularität erklärten die DDR-Grenzer King, dass er sich irgendwie ausweisen müsse. Der damals 35-Jährige reichte seine American-Express-Card hinüber. Den Soldaten genügte die Kreditkarte, sie ließen ihn passieren. Der US-Bürgerrechtler fuhr nach dem Grenzübertritt direkt zur evangelischen Marienkirche am Alexanderplatz und später weiter in die evangelische Sophienkirche in Berlin-Mitte. In beiden komplett überfüllten Gotteshäusern predigte er vor rund 3.000 Menschen über Freiheit und Menschenrechte, danach traf er im kleinen Kreis noch DDR-Kirchenvertreter. In den Stunden zuvor hatte sich unter Ost-Berliner Christen lediglich über Mund-zu-Mund-Propaganda die Information verbreitet, dass King möglicherweise kommt.
Die SED-Führung dagegen wusste von der Stippvisite bis zuletzt offenbar nichts. Das zumindest legen Recherchen des Theologischen Referenten der Marienkirche, Roland Stolte, nahe. Stolte trägt noch immer neue Informationen über den Besuch Martin Luther Kings in Ost-Berlin zusammen, befragt Zeitzeugen in Deutschland und den USA und wertet Dokumente aus.
Auch über die Hintergründe des spektakulären Besuchs kennt er zahlreiche Details. Lange war etwa von Historikern gemutmaßt worden, Kings Ausflug in den Osten sei eine Reaktion auf einen Zwischenfall an der Berliner Mauer gewesen. Am Morgen des 13. September 1964 war ein 21-Jähriger bei einem Fluchtversuch durch fünf Schüsse von DDR-Grenzsoldaten schwer verletzt worden. Als King von dem Vorfall erfuhr, eilte er sofort an den Ort des Geschehens und bezeichnete die Schüsse als "unfassbar".
King kritisierte trennende Mauern zwischen Menschen
Doch der vermeintliche Spontan-Ausflug habe eine längere Vorgeschichte gehabt, sagt Stolte. Der frühere Propst der Marienkirche, Heinrich Grüber, hatte demnach King zur Predigt eingeladen. Grüber und der US-Bürgerrechtler hatten seit 1963 in Briefkontakt miteinander gestanden. Der Propst, der während der NS-Zeit in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau interniert war, nahm intensiv Anteil an den Aktivitäten der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.
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Nach dem Mauerbau 1961 lebte Grüber in West-Berlin, der Besuch in den Ostteil der Stadt blieb ihm untersagt. Dennoch hat der Theologe die Drähte zwischen King und der Marienkirche geknüpft. "Informationen, er könnte wirklich kommen, wurden schon in den Tagen vor seinem Besuch unter der Hand verbreitet", erinnert sich auch Irmtraud Streit. Die damals 21-Jährige war Tochter des Präsidenten der Baptisten in der DDR. Ihr Vater saß an der direkten Informationsquelle, denn auch King war Baptist.
In den beiden Ost-Berliner Gotteshäusern predigte der US-Bürgerrechtler jeweils eine knappe halbe Stunde. Er kritisierte unter anderem trennende Mauern zwischen den Menschen. Vor allem aber griff er auch hier die Rassentrennung an. Viele Zuhörer waren des Englischen nicht ausreichend mächtig, um der Predigt folgen zu können. "Aber dass Martin Luther King, der soviel durchgemacht hat, zu uns unbedeutenden Ost-Berlinern kam, das beflügelte uns, in unsere Kritik an den herrschenden Zuständen nicht nachzulassen", erzählt Augenzeugin Streit.
Der Ost-Berlin-Ausflug blieb der einzige Besuch Martin Luther Kings hinter dem Eisernen Vorhang. Genau einen Monat später bekam er dem Friedensnobelpreis zuerkannt. Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King im Alter von 39 Jahren in Memphis, Tennessee, von einem weißen Rassisten erschossen.